Zürich 12. Dez 2025

Pionier für die Freiheit der Forschung

Charles Weissmann (1931–2025) bei der Lektüre einer einer alten LIFE-Ausgabe im Jahre 2021 mit einem Porträt über seine wissenschaftliche Leistung. 

Der Schweizer Molekularbiologe Charles Weissmann ist in der Nacht auf Freitag im Alter von 94 Jahren verstorben – seine Forschung prägt die Wissenschaft bis heute.    

Mit Charles Weissmann verliert die internationale Wissenschaft einen Forscher, der zu den prägenden Figuren der modernen Molekularbiologie gehörte – und zugleich einen Intellektuellen, der Wissenschaft stets als kritisches, offenes und verantwortliches Projekt verstand. Weissmann verband bahnbrechende Grundlagenforschung mit institutionellem Engagement und einer klaren Haltung gegen die Politisierung der Wissenschaft.  

Weissmann war ein Grenzgänger in allem, was er tat, und geprägt von seiner Zeit in der Emigration. Sein analytisches Bewusstsein spiegelte sich auch in der Art, wie er Kunst sammelte – neben der Qualität und Farbigkeit der Werke immer mit einem Bezug zu übergeordneten Perspektiven. Die Werke des belgischen Surrealisten René Magritte, die Weissmanns Denken der Vieldimensionalität erfassen, spielten dabei eine wesentliche Rolle.  

Geboren wurde Charles Weissmann im Jahr 1931 in Zürich. Seine Eltern waren vor dem Ersten Weltkrieg aus Lemberg in die Schweiz eingewandert. Der Vater leitete zunächst ein Kino in Luzern, später das Kino Radium in Zürich, und gründete danach den Emelka-Filmverleih, der europäische und später englische Filme vertrieb. Kultur, Film, Kunst und Wissenschaft prägten das Elternhaus. Religiös sei er nicht aufgewachsen, sagte Weissmann später, „einige Traditionen wurden jedoch eingehalten, und ich habe einen jüdischen Hintergrund mit auf den Weg bekommen“.  

Weissmanns frühe Lebensgeschichte war eng mit Migration und kultureller Verschiebung verwoben. Seine Eltern stammten aus Lemberg, das damals Teil des österreichisch-ungarischen Reichs war, und waren schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz eingewandert. Über diese familiären Wurzeln erzählte Weissmann in einem Gespräch mit *tachles*: „Meine Eltern wanderten vor dem Ersten Weltkrieg aus Lemberg in die Schweiz ein. Ich bin nicht in einem gläubigen Elternhaus aufgewachsen, einige Traditionen wurden jedoch eingehalten, und ich habe einen jüdischen Hintergrund mit auf den Weg bekommen.“ Sein Vater führte zunächst ein Kino in Luzern, später das Kino Radium in Zürich, und gründete den Emelka-Filmverleih, der vor dem Krieg deutsche und französische und danach englische Filme vertrieb, unter anderem von Alexander Korda, mit dem er befreundet war.  

Als sich 1940 der Frieden in Europa erneut dramatisch verschlechterte, entschied die Familie – aus Sorge um Sicherheit und Zukunft – zur Emigration nach Brasilien zu gehen, wo Weissmann seine Jugend verbrachte. Die Rückkehr in die Schweiz 1946 nach dem Krieg war nicht nur eine geografische Heimkehr, sondern markierte den Beginn seiner akademischen Laufbahn. Diese Erfahrungen von Ortswechsel, Anpassung und kultureller Vielfalt blieben ihm prägend – nicht als narzisstischer Mythos, sondern als nüchterne historische Tatsache, die seine Haltung zur Wissenschaft mitprägte: offen, kritisch und stets reflektiert im Verhältnis zu Herkunft und Umgebung.  

Weissmann studierte Medizin und Chemie und wandte sich früh der Molekularbiologie zu. An der Universität Zürich wurde er Professor und leitete über Jahre ein Institut, das international sichtbar war. Seine wissenschaftliche Haltung beschrieb er selbst im Interview mit *tachles* – sein stetes Interesse an der Grundlagenforschung: „Wie funktioniert etwas, wie kann man es beeinflussen?“ Zufall und Offenheit gehörten für ihn zur Forschung ebenso wie methodische Strenge. Und er hinterfragte immer wieder aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft: „Heutzutage ist Biologie ohne Gentechnik genauso undenkbar wie eine Dschungelexpedition ohne Kompass.“  

Weltweite Bekanntheit erlangte Weissmann durch seine Arbeiten zum Interferon. Ihm gelang es, Interferon gentechnologisch herzustellen – eine Voraussetzung dafür, dass es später klinisch eingesetzt werden konnte. Interferon wurde nicht zum erhofften universellen Krebsmedikament, erwies sich jedoch über Jahre als zentrales Therapeutikum, insbesondere gegen Hepatitis. Weissmann blieb auch hier frei von Überhöhung: „Interferon wurde dann nicht zum allgemeinen Heilmittel gegen Krebs, aber gegen Hepatitis.“  

Nach seiner Emeritierung in Zürich setzte Weissmann seine wissenschaftliche Arbeit im Ausland fort. Er wurde an das University College London berufen und später an das Scripps Research Institute in Florida, wo er bis 2012 tätig war. Dass er in der Schweiz mit 67 Jahren pensioniert wurde, kommentierte er sachlich: Entscheidend sei, dort zu arbeiten, „wo ich am besten forschen konnte“.  

Das zentrale Forschungsfeld Weissmanns war die Prionforschung. Er trug wesentlich zum Verständnis der molekularen und genetischen Grundlagen von Prionkrankheiten bei. Auch hier verband er wissenschaftliche Neugier mit Vorsicht – und mit dem Bewusstsein, dass Erkenntnis gesellschaftliche Verantwortung nach sich zieht.  

Öffentlich äusserte sich Weissmann immer wieder zu Ethik und Wissenschaftspolitik. Eingriffe in das menschliche Genom betrachtete er als grundsätzlich ambivalent. Im Jahr 2021 sagte er:  
„Wenn man nicht genau weiss, was die Konsequenzen sind, sind genetische Eingriffe nicht zu verantworten“, sagte er – fügte jedoch hinzu, dass man Forschung nicht grundsätzlich unterbinden dürfe, wenn ihre möglichen Folgen überwiegend positiv seien. Die zunehmende Politisierung der Wissenschaft empfand er als „belastend“.  Während der Covid-19-Pandemie zeigte sich Weissmann überzeugt von der Wissenschaft. RNA-basierte Impfstoffe bezeichnete er als „eine moderne Art der Vakzinierung“. Irritiert zeigte er sich über die Impfskepsis, wie er  in tachles ausführte:  „Es ist befremdend, dass in einer Zeit, in der Wissenschaft so weit popularisiert worden ist, die Leute immer noch mittelalterliche Einstellungen haben.“  

 

weismann Porträt

 Charles Weissmann im Magazin LIFE im Jahre 1980. 

Neben seiner eigenen Forschung engagierte sich Weissmann stark für wissenschaftliche Institutionen – insbesondere für Israel. Er war langjähriger Präsident des Schweizer Freundeskreises des Weizmann-Instituts und setzte sich nachhaltig für den wissenschaftlichen Austausch zwischen der Schweiz und Israel ein. Zudem pflegte er enge Beziehungen zum Technion in Haifa. 2016 stiftete er dort einen Lehrstuhl für Precision Medicine sowie einen Doktorandenfonds, ausdrücklich in Erinnerung an seine Eltern. Der Entscheid sei sowohl wissenschaftlich wie emotional motiviert gewesen, und er sagte: „Für Israel habe ich auch spezielle Gefühle.“  

1970 sollte er schliesslich Juliette Silberstein begegnen und später heiraten, die seine zweite grosse Liebe wurde und mit der er fortan zwischen den USA und der Schweiz lebte.  Er bliebt Grenzgänger, Kosmopolit und vereinte seine europäischen Wurzeln mit Weltgewandtheit und amerikanischem Forschergeist. 

Mit der Universität Zürich blieb Weissmann stets verbunden. Er stiftete dort einen Lehrstuhl zu Ehren seines Lehrers Ernst Hadorn. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden würdigten sein Lebenswerk. Der Nobelpreis blieb ihm verwehrt; dazu sagte er einst ohne Bitterkeit im Interview mit *tachles* mit einem spitzbübischen Lächeln: „Alle, die ihn erhalten haben, haben ihn verdient, aber nicht alle, die ihn verdient hätten, haben ihn erhalten.“ Und er fügte an, dass er sich nur als Teil einer Forschungsgemeinschaft betrachtete, die in ihrer Zeit zum Teil vor ihrer Zeit war und die Kette bildet in der Erkenntnis. Denn gerade seine RNA-Forschung sollte schliesslich viele Jahre später während der Covid-Pandemie zur erfolgreichen Impfung führen.  

Charles Weissmann war ein begnadeter Erzähler jüdischer Witze und Anekdoten, schrieb selbst Aphorismen. Gespräche mit ihm navigierten stets zwischen klarer Analyse und zugleich faszinierendem, lebenszugewandtem Esprit mit viel Humor. Weissmann verstand sich nicht als religiöser Mensch, aber als kulturell jüdisch geprägt. Wissenschaft war für ihn kein Glaubensersatz, sondern eine Praxis der Erkenntnis – offen, vorläufig, revidierbar. Der jüdischen Gemeinschaft blieb er stets stark verbunden und engagierte sich bis zuletzt für offenen Forschungsaustausch mit israelischen Universitäten. Mit seinem Tod verliert die Wissenschaft einen Forscher, der Generationen geprägt hat, ohne sich je selbst in den Mittelpunkt zu stellen.  

 

Yves Kugelmann