Sidra Chajej Sara 14. Nov 2025

Drei Mal langsam auf und ab

Wir wollen uns diesmal mit einem ganz kleinen, meist unbemerkten, aber dennoch sehr interessanten und höchst aussagereichen Detail in unserer Parascha beschäftigen. Mit einem Detail, das im Zusammenhang steht mit dem «Leinen», das heisst mit dem Singen des Textes der Thora, mit der Melodie der Thoravorlesung.

Der Text der Thora, wie er sich auf den – von Hand auf Pergament geschriebenen – Thorarollen findet, besteht nur aus den Buchstaben des hebräischen Alphabets, ohne irgendwelche Zusätze. (Diese Buchstaben sind die Konsonanten der hebräischen Sprache.) In den gedruckten Texten der Thora aber, in unseren «Chumaschim», sehen wir einige Ergänzungen. Der Text ist da zunächst einmal punktiert und interpunktiert; das heisst er ist vokalisiert und mit Satzzeichen versehen. Diese Ergänzungen helfen uns, den Text richtig zu lesen und zu verstehen.

Zudem aber finden wir in den Chumaschim auch «Teamim», eine Art «Singzeichen», wie Musiknoten, die die Melodie der Thoravorlesung bestimmen. Auch diese Zeichen – wie die Vokale – finden sich ober- und unterhalb der einzelnen Wörter des Textes.

Die Teamim haben aber nicht nur die Funktion, die Melodie der Thoravorlesung zu bestimmen. Da die Teamim gewisse Wörter jedes biblischen Verses auch miteinander verbinden und sie so gruppieren, unterteilen sie die Verse und helfen so, den Text besser zu verstehen.

Selten einmal kommt es aber auch vor, dass ein bestimmtes Zeichen nicht nur vorschreibt, wie ein Wort gesungen werden soll, sondern auch eine Aussage über die Bedeutung des Wortes selbst macht. Mit so einem Fall wollen wir uns jetzt befassen.

Im Mittelpunkt unserer Parascha steht die Beschreibung, wie Elieser – der Knecht Awrahams – eine Frau für den Sohn seines Herrn, für Jizchak, sucht und findet. Elieser macht sich auf den Weg und kommt dort an, wo Awraham ihn hingeschickt hat. Noch bevor er irgendetwas unternimmt, um seinen Auftrag zu erfüllen, spricht er zu Gott und bittet Ihn, ihm zu helfen, die passende Frau für Jizchak zu finden. (1.B.M. Kap. 24)

Über dem Wort «wajomar, er sprach [zu Gott]» (Vers 12) findet sich das sehr seltene Zeichen «Schalschelet». Seine Melodie ist ein dreifaches, sehr in die Länge gezogenes Auf und Ab der Melodie.

Sehr bemerkenswert und äusserst ausserordentlich ist hier nun, dass dieses Schalschelet nicht nur als Singzeichen gesehen wird, sondern auch als Aussage über die Bedeutung des Wortes Wajomar. Um diese Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns die beiden anderen Stellen, an welchen sich ein Schalschelet in Sefer Bereschit findet, genau ansehen.

Die eine Stelle ist auf dem Wort «wajitmama, er zögerte» (ibid. 19, 16) in der Geschichte von Lot und Sdom, die andere bei Josef und der Frau von Potifar, die ihn verführen wollte, auf dem Wort «wajema’en, er weigerte sich» (ibid. 39, 8). An beiden Stellen bringt das in die Länge gezogene Schalschelet zum Ausdruck, dass sich die Tätigkeit des Verbes, auf dem sich das Schalschelet befindet, sehr in die Länge gezogen hat, dass da lang gezögert wurde.

Lot hat lang gezögert, Sdom zu verlassen, weil er sich bewusst war, dass dies für ihn bedeutete, dass er seinen ganzen Besitz in der Stadt lassen muss. Da der Drang nach Besitz in jedem Menschen aber sehr stark ist, fiel es ihm äusserst schwer, Sdom zu verlassen, und er zögerte sehr. Das Schalschelet nun weist auf dieses lange Zögern hin.

Auch Josef hat gezögert. Er war sich zwar bewusst, dass die Frau von Potifar ihn verführen wollte, und er wollte der Verführung widerstehen. Da es ihm als jungem Mann aber nicht leichtfiel, ihr zu widerstehen, hat er lang gezögert, musste er sich überwinden, sich zu weigern und ihre Verführungsversuche abzulehnen. Auch hier weist das Schalschelet auf dieses Zögern hin.

Bei Elieser ist es analog. Auch er hat gezögert. Denn – gemäss dem Midrasch – hatte Elieser eine Tochter und war interessiert, dass Awraham sie als Frau für Jizchak auswähle (vgl. Raschi zu ibid. 24, 39). Deshalb fiel es ihm äusserst schwer, den Auftrag Awrahams zu erfüllen, eine andere Frau für Jizchak zu finden. Er hat deshalb sehr gezögert, Gott zu bitten, ihm bei der Suche nach dieser Frau behilflich zu sein. Und auch hier weist das Zeichen Schalschelet auf das Zögern hin.

Wir sehen also, dass die Teamim uns nicht nur wissen lassen, wie der Text der Thora zu leinen, zu singen ist, und nicht nur, welche Worte zusammengehören, sondern dass die Teamim uns manchmal auch einen versteckten Hinweis auf die Bedeutung eines Wortes geben. Es lohnt sich also, beim Leinen ganz genau hinzuhören.

David Bollag