Das Jüdische Logbuch 06. Jul 2018

Der Schrei nach Leben

Kopenhagen, Juni 2018. Der Dialog unter abrahamitischen Religionen ist in Dänemark stark entwickelt und steht zugleich unter dem Eindruck der Gewaltereignisse der jüngeren Geschichte. Im Jahre 2005 lösten die Mohammed-Karrikaturen in der dänischen Tageszeitung «Jyllands-Posten» eine Welle der Empörung in islamischen Ländern und unter Muslimen und eine weltweite Debatte aus. Zehn Jahre später wurden bei zwei islamistischen Terroranschlägen in einem Kulturzentrum und vor der grossen Synagoge Kopenhagens mehrere Menschen getötet und schwer verletzt. Die Ereignisse haben die Gesellschaft geprägt. Sie gehören heute ebenso zum Selbstverständnis der Geschichte der Dänen wie die in Europa beispiellose Rettung der dänischen Juden im Oktober 1943 während der Zeit des Nationalsozialismus aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten. Sie wurde durch den deutschen Diplomaten Georg Ferdinand Duckwitz (1904–1973) und weite Teile der dänischen Gesellschaft möglich und verhinderte mit der Evaluation von 7000 Juden ins schwedische Öresund den Mord an vielen Juden im Holocaust. Der französische Botschafter François Zimeray hat den Anschlag 2015 unversehrt überlebt. «Nach ‹Charlie Hebdo› war für mich klar, dass ich sterben werde.» Ohne Emotionen beschreibt er die Minuten der Attacke, als der mit Maschinengewehren bewaffnete Attentäter das Kulturzentrum stürmte. Heute wie vor dem Anschlag setzt er sich für den Dialog unter Religionen und mit Migranten ein, mit seiner, der französischen und der Erfahrung der laizistischen Republik. Dänemarks Oberrabbiner Jair Melchior schildert, dass der Antisemitismus in Dänemark zurückgegangen ist. Die Sicherheitsmassnahmen vor der Synagoge mitten in der Stadt sind am Freitagnachmittag vor Schabbat dennoch erheblich. Die Strasse ist permanent abgeriegelt, zwei Polizeiautos und dänische Sicherheitsbeamte stehen davor. Freundliche Menschen, die sich gut einordnen inmitten der Umgebung mit orientalischen und anderen Cafés, der städtischen Bibliothek. Die radikalisierte islamistische Szene in Dänemark sei zwar klein, aber beständig, erzählt ein Experte. Und so steht die Abschottung Dänemarks bei der aktuellen Flüchtlingsdebatte in Europa noch stark im Kontext mit der jüngeren Ereignisse. Oberrabbiner Melchior erzählt von der talmudischen Legende, die er vor kurzem an einem Seminar erzählt hat. Ein jüdischer Student war so vertieft in sein Lernen, während in einem anderen Zimmer sein Baby schrie. Doch bei der Inbrunst des Lernens hörte er sein eigenes Kind nicht. Daraufhin kam ein Rabbi und ermahnte ihn: «Wenn du dein Kind nicht mehr weinen hörst, wenn du die heiligen Texte liest, dann stimmt etwas nicht. Das Leben ist immer wichtiger als andere – selbst die göttlichen Texte.» Gleichentags besuchte Melchior eine Veranstaltung in Kopenhagen in einem muslimischen Zentrum. «Dort hörte ich genau die gleiche Legende mit Verweis auf islamische Quellen.» Metaphorische Worte in Zeiten der Trennung mit Verweis auf zwei Schrifttraditionen, die Lebensbejahung als Quelle verorten.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann