Nizza, Mai 2024. Das Zählen des Omer hat am 8. Oktober begonnen, sagt Lea am «Chol hamoed pessach». Sie wolle der Katastrophen von heute gedenken. «Die Historisierung der Gegenwart verstellt den Blick auf das, was heute wichtig ist.» Solange die Geiseln in der Gewalt der Hamas seien, würde sie die Tage zählen. Es fehle eine Mirjam, die die Juden aus Ägypten geführt hätte. Auf die amtierende israelische Regierung vertraut sie nicht. Mit Freundinnen hat Lea sich organisiert und erinnert an der Promenade des Anglais mit Stickern an das Schicksal der Geiseln. Sie ist Mitte 30 und strahlt Zuversicht aus. Es regnet in Strömen. «In diesem Jahr benötigten wir keinen Marror, kein Salzwasser auf Sederplatte» sagt Lea und redet noch lange über die dramatische Situation Israels, in die es sich teilweise über Jahrzehnte selbst hineinbegeben hätte, und macht sich Sorgen darüber, dass die Hamas mit den Massakern vom 7. Oktober neben den vielen Opfern auch eine Spaltung der Jüdinnen und Juden weltweit zunehmend verschärft hat. Am Abend sitzt der 1947 geborene William am Tisch in einem der Dörfer an der Küste. Seine Eltern überlebten den Holocaust, aufgewachsen ist er in einem traditionellen jüdischen Haus, kennt den Talmud teilweise auswendig. Pessach oder Schabbat hält er schon lange nicht mehr. «Wir müssen die Augen öffnen. 90 Jahre nach 1933 wiederholt sich die Geschichte. In anderer Konstellation, auf einer anderen Ebene, nach einem jahrtausendealten Muster: Die Juden sind selbst an ihrem Unglück schuld. Darin ist sich heute die Mehrheit der Weltbevölkerung einig. Aber wir haben keine Zeit zu jammern, zu diskutieren, zu streiten. Wir werden es, vielleicht, nur schaffen das Erreichte, oder wenigstens einen Teil davon, zu erhalten, wenn wir es mit Händen und Zähnen verteidigen» meint er. Seine Gedanken äussert er bedächtig, mit ruhiger warmer Stimme. Er spricht von zwei möglichen Szenarien: «Wir warten das Ende des Sturms ab, verstecken uns so gut es geht, jeder für sich. Dies bedeutet das Ende Israels, zumindest so wie es vor dem 7. Oktober war, und eine neue, dritte, Diaspora, nach der babylonischen und der römischen. «Das jüdische Volk» würde überleben, der Preis wäre seine Rückkehr in die so oft wiederholte Geschichte von Unterdrückung, Demütigung und Erniedrigung. Oder: Wir erkennen, dass die Erhaltung und das Gedeihen Israels die Grundlage unseres Selbstverständnisses als Nation unter Nationen ist. Und sind bereit, alles zu opfern, um dieses Land für uns zu erhalten, wie auch immer und ohne Verlass auf andere. Vielleicht eine Existenz am Rande, wie in unserer ganzen Geschichte, von ihrem Anbeginn an.» Es bedürfe keines «grossen» Plans, keines Entwurfs für den «Tag danach», keiner grossen Einigkeit. Es genüge dieser kleinste gemeinsame Nenner, sagt er pragmatisch und schliesst: «Leider, wie so oft in unserer Geschichte, wird es beides geben. Die toten Helden, deren Sage von Generation zu Generation weitererzählt werden wird, und die Überlebenden.» Die Geschichte ist noch lange nicht weitererzählt. Die Texte und Rituale in der Haggada bleiben, ihre Bedeutung und ihre Symbolik ändern sich seit Jahrhunderten permanent. Zugleich bleiben Leas Worte in Erinnerung. Der bevorstehende Jom Haschoah muss einer bleiben für die Opfer der Schoah, Jom Hasikaron und Jom Haazmaut sind die Tage für die Konflikte und Opfer der Gegenwart.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
03. Mai 2024
Der doppelte Omer und die dritte Diaspora
Yves Kugelmann