Der Midrasch zu unserer Parascha präsentiert eine aussagereiche Metapher: Es war einmal ein König, der seine Königin sehr liebte. Sie waren sehr eng miteinander verbunden und lebten viele Jahre glücklich zusammen in ihrem Palast. Doch eines Tages brach ein grosser Streit zwischen den beiden aus. Der König wurde sehr wütend und vertrieb die Königin aus seinem Palast. Sie sah sich gezwungen, in ihr Elternhaus zurückzukehren.
Doch unmittelbar bevor die Königin den Palast verliess, sagte der König zu ihr, sie solle auch ausserhalb des Palastes weiterhin ihren wertvollen Schmuck tragen. Er wollte damit erreichen, dass sie die Gewohnheit bewahre, sich zu pflegen und gut auszusehen. Denn der König wusste sehr genau, dass er die Königin eines Tages wieder in den Palast zurückrufen würde und wollte deshalb sicher sein, dass sie hübsch und attraktiv bleibe (Sifrej Ekew, Piska 43).
Der Midrasch bezieht sich auf eine sehr bekannte, aber dennoch etwas schwer verständliche Stelle in unserem Wochenabschnitt. Wir finden in unserer Parascha einen Abschnitt, den wir täglich zweimal im Schma-Jisrael-Gebet rezitieren. Es ist der zweite Abschnitt des Schma, der mit den Worten «wehaja im schamoa» beginnt. In diesem Abschnitt prophezeit Gott dem Volk, er werde es belohnen, wenn es seine Gebote einhält. Falls aber nicht, würde er wütend werden und es aus seinem Land, aus Israel, vertreiben (5. B. M. 11, 13 ff.).
Doch unmittelbar nach dieser Drohung fordert Gott das Volk auf, die Gebote der «tefilin» und der «mesusot» einzuhalten und Thora zu lernen. In den Augen des Sifrej (ibid.) bedeutet dies, dass Gott dem jüdischen Volk befiehlt, diejenigen Gebote der Thora, die nicht an das Land Israel und seine Bebauung gebunden sind, wie beispielsweise die Tefilin, auch ausserhalb von Israel einzuhalten. «Obwohl ich euch aus dem Land in die Diaspora vertreibe, zeichnet euch durch Gebote der Thora aus, damit sie für euch nicht neu sind, wenn ihr zurückkehren werdet» (ibid.). Und zur Illustration präsentiert der Midrasch hier die oben zitierte Metapher vom König und seiner Königin.
Die Interpretation der Verse durch den Midrasch will uns zu verstehen geben, dass die Gesetze der Thora dem jüdischen Volk primär für sein Leben in Israel gegeben worden sind. Der König und die Königin leben zusammen in ihrem Palast. Die direkteste Verbindung zwischen Gott und dem jüdischen Volk besteht in Israel.
Doch wie wir aus der Geschichte und der Gegenwart wissen, lebte ein bedeutender Teil des jüdischen Volkes bis heute immer wieder ausserhalb des Landes. Für diese Zeit nun ist es wichtig, dass die Königin weiter ihren wertvollen Schmuck trägt. Das bedeutet, dass die Einhaltung gewisser Gebote der Thora auch in der Diaspora der Verbindung zu Gott dienen kann und soll. Sie soll bewirken, dass sich das jüdische Volk dort durch diese Gebote auszeichnet und von seiner Umgebung unterscheidet, damit es -–wie wir es heute ausdrücken würden – in der Diaspora seine jüdische Identität bewahren und als Volk überleben kann.
Im selben Atemzug kann aber ergänzt und betont werden, dass die Metapher erweitert werden muss. Denn das jüdische Volk hat überraschenderweise und paradoxerweise gerade in der Diaspora grosse und einflussreiche Leistungen vollbracht, viel Neues erfahren und gelernt, hat äusserst wichtige Entwicklungen durchgemacht und grosse Bereicherung erlebt. In Babylonien hat es den Babylonischen Talmud verfasst, der bis heute die bedeutendste Basis für die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, bildet; ausserhalb von Israel ist es der systematischen Philosophie begegnet und hat sie in die jüdische Geisteswelt integriert. In der Neuzeit hat es in Europa die Aufklärung mitgemacht, hat die moderne Wissenschaft kennengelernt, hat die Entwicklung und Verbreitung der Demokratie miterlebt und ist direkt von alledem beeinflusst worden.
Die jüdische Königin hat also nicht nur die Aufforderung des Königs befolgt und ihren königlichen Schmuck auch ausserhalb des Palastes getragen, sie hat sich dort erstaunlicherweise neue, sehr wertvolle Schmuckstücke angetan. Der Aufenthalt des jüdischen Volkes in der Diaspora hat eine wichtige Funktion in der jüdischen Geschichte. Er bereichert uns, erweitert und vertieft unser Verhältnis zu Gott. Damit wir am Ende der Diaspora nicht nur mit den alten, sondern auch mit neuen Schmuckstücken in unseren Palast zurückkehren können.
Sidra Ekew
15. Aug 2025
Der Schmuck der Königin
David Bollag