In der Kette der jüdischen Generationen haben sich viele Rituale, Bräuche, Überzeugungen und Meinungen zu den Tagen von Rosch Haschana und Jom Kippur sowie den Tagen davor und dazwischen wie Glieder einer Kette zusammengefügt. Eines der wichtigsten und bekanntesten Rituale ist das Schofarblasen.
Der Schofar ist ein Blasinstrument, das in der Regel aus dem Horn eines Widders gefertigt wird. In der talmudischen Literatur wird das Verbot, ein Kuhhorn als Schofar zu verwenden, damit begründet, dass sich ein «kategor» («Ankläger») nicht in einen «sanegor» («Fürsprecher») verwandeln darf. Dies ist ein Verweis auf die Sünde des Goldenen Kalbes. Das jüdische Gesetz schreibt vor, dass der Schofar an den beiden Tagen von Rosch Haschana jeweils 30-mal geblasen werden muss. Nach einem Brauch wird er jedoch an jedem Tag 100- oder 101-mal geblasen. Während einige dieses Ritual nur den Tagen von Rosch Haschana zuschreiben, sollte das Schofarblasen nach anderen Traditionen vom Beginn des Monats Elul bis zum Ende der Jamim Noraim stattfinden.
Warum wird zu Rosch Haschana der Schofar geblasen? Die Gründe sind vielfältig. Rosch Haschana ist auch als «jom terua» («Tag des Blasens») bekannt. Im Buch Bamidbar steht dazu: «Am ersten Tag des siebten Monats sollt ihr eine heilige Versammlung abhalten; an diesem Tag dürft ihr keine schwere Arbeit verrichten. Es soll für euch ein Tag des Blasens sein.» Manche sehen darin eine Erinnerung an die Bindung Isaaks, da das Schofarblasen an die geplante Opferung Isaaks durch Abraham für Gott erinnert. Anstelle Isaaks wurde jedoch ein Widder geopfert, dessen Hörner an das stellvertretende Sühneopfer Israels erinnern sollten.
Es gibt jedoch eine andere Begründung, für die es in der jüdischen Tradition viele Beispiele gibt: das Blasen des Schofars, um den Teufel zu verwirren oder, wörtlich übersetzt, «durcheinanderzubringen». Nach einigen jüdischen Überlieferungen nutzt der Teufel die Zeit vor und während Rosch Haschana, um das Volk Israel anzuklagen. Dabei wird der Schofar als Mittel der Sabotage eingesetzt, um den Teufel daran zu hindern, sich einzumischen. Shai Agnon beschreibt diesen Brauch in seinem berühmten Werk «Jamim Noraim».
Beginnen wir mit demjenigen, der lernen möchte, wie man das Schofar bläst. Bereits in dieser Phase erwähnt Agnon eine Regel von Rabbi Elijah Spira (1660–1712), die aus dessen Werk «Elijah Raba» stammt: «Wer blasen will, um zu lernen, wie man bläst, tut dies in einer Mikwa oder einem geschlossenen Raum, um Satan nicht daran zu gewöhnen.» Um zu verstehen, was genau damit gemeint ist, dass sich der Teufel daran gewöhnt, ziehen wir zwei andere Quellen heran, die Agnon zusammenführt: eine aus dem «Sefer Lewusch» von Rabbi Mordechai Jaffe (1530–1612) und die andere aus dem «Sefer Mate Moshe» von Rabbiner Moshe ben Avraham von Przemyśl (1550–ca. 1606): «Nachdem man mit den Selichot fertig ist und Schacharit gebetet hat, soll, anders als an den anderen Tagen des Elul, kein Schofar geblasen werden. So wird eine Pause zwischen dem Brauchblasen im Monat Elul und dem Pflichtblasen von Rosch Haschana geschaffen, das die Torah anordnet (‹Sefer Lewusch›). Auf diese Weise wird der Satan verwirrt und weiss nicht, wann Rosch Haschana ist. So kann er uns nicht anprangern, weil er denkt, der Tag des Gerichts sei schon vorbei (‹Mate Mosche›).»
Eine weitere von Agnon angeführte Quelle ist das kabbalistische Buch «Chemdat jamim», dessen Autor unbekannt ist (manche schreiben es Nathan von Gaza zu). Agnon liefert eine weitere Erklärung dafür, wie der Schofar den Teufel verwirren kann: «Unsere Vorväter sagten, der Sinn des Schofars bestehe darin, den Satan zu verwirren. Er würde denken, der Messias sei gekommen, denn er ist so unwissend, dass er dieses Schofar mit dem Schofar der Tage des Messias verwechselt. Beim ersten Mal würde er sich nicht so sehr fürchten, denn er ist bereits daran gewöhnt, dass die Menschen dieses Volkes das erste Zeichen nie beachten, weil ihre Ohren verstopft sind. Wenn er das Schofar jedoch ein zweites Mal hört, wird er sich fürchten und denken, dass der Messias sicherlich gekommen ist. Er weiss nämlich, dass ein zweites Zeichen von uns allen gehört wurde, dass wir alle Teschuwa gemacht haben, dass der Messias gekommen ist und der Tod beseitigt wurde (…).»
Zum Schluss bringt Agnon eine weitere Erklärung aus dem Sefer «Orchot chaim». Demnach ist Satan dort lediglich eine Allegorie für den «jetzer hara», also den bösen Trieb des Menschen. «Es gibt auch diejenigen, die ‹Satan zu verwirren› als das Besiegen des bösen Triebes interpretieren. So steht es in Amos 3 geschrieben: «Bläst in der Stadt jemand ins Horn, ohne dass das Volk erschrickt? Satan ist der böse Trieb, er ist der Todesengel.»
Oded Fluss ist Co-Leiter der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.
standpunkt
19. Sep 2025
Den Teufel verwirren
Oded Fluss