Talmud heute 15. Aug 2025

Baal Schem Tovs kritische Theorie

Ein Tsunami des Antisemitismus durchflutet Europa. Es ist erschreckend, wie leicht europäische Individuen, Medienschaffende und Staatschefs in die Manipulationsfalle der Hamas tappen. Deren Propaganda ist eine wohl durchdachte und geölte Maschinerie, in der sich Lüge an Lüge reiht und alles daran tut, den Menschen auf der weiten Welt einer antiisraelischen Gehirnwäsche zu unterziehen. Das neueste Lügengebäck aus dem Hamas-Propaganda-Ofen heisst «Genozid». Es wird dem Judenstaat vorgeworfen, das palästinensische Volk in Gaza systematisch vernichten zu wollen. Es versteht sich von selbst, dass, wenn etwas an dieser schrecklichen These wahr wäre, der Krieg längst beendet und nicht bis heute andauern würde. Wie ist es möglich, dass sich Menschen von dieser abstrusen Behauptung des Völkermords verleiten lassen? Wie lässt sich der schauderhafte Zuspruch dieses neuen Antisemitismus gerade innerhalb der westlichen Gesellschaft erklären? Weshalb lassen sich immer mehr nichtmuslimische Europäer von dieser antisemitischen Propaganda, lanciert durch die Hamas und gesponsert durch Katar, einspannen?

Es gibt viele rationale und irrationale Gründe für Antisemitismus in seiner gegenwärtigen antiisraelischen Kleidung. Beleuchten wir an dieser Stelle eine psychologisch-historische Perspektive. Dazu möchten wir ein faszinierendes Gesetz der Mischna hinsichtlich der Begutachtung eines Aussätzigen zu Zeiten des Tempels besprechen: «Alle Aussatz-Schäden kann ein Mensch begutachten, ausser seine eigenen» (Negaim 2:5). Hier ist von einem Kohen, also einem Juden der Priester-Dynastie, die Rede, der gemäss der Vorschrift der Thora einen Aussatz bei einem Mitmenschen begutachten muss, ehe er ihn als Aussätzigen deklarieren kann (3. B.M. 13:1–3). Solange der Kohen den Betroffenen nicht offiziell als «Aussätzigen» definiert, obliegen letzterem keinerlei Einschränkungen infolge seines Aussatzes, beispielsweise die Absonderung von der Gesellschaft (13:46). Die erwähnte Mischna besagt nun, dass ein Kohen sehr wohl Aussatz-Schäden bei Mitmenschen begutachten kann und soll, nicht aber bei sich selbst. Hätte also ein Kohen zu Tempelzeiten an seinem eigenen Körper einen auffälligen Hautausschlag bemerkt, hätte er zu einem anderen Kohen gehen müssen, um sich untersuchen zu lassen. Er selber durfte sich jedoch nicht einer Selbstuntersuchung unterziehen. Die Bedeutung leuchtet ein: Wir Menschen tun uns schwer, eigene Makel anzuerkennen. Aber wenn es darum geht, negative Seiten bei Mitmenschen wahrzunehmen, dann werden wir sehr aktiv und verlässlich.

Der chassidische Meister Baal Schem Tov (1700–1760) ging jedoch einen Schritt weiter. In seiner hoch originellen Leseweise dieser Mischna versetzt er im hebräischen Text das Komma. Er liest nicht: «Alle Aussatz-Schäden kann ein Mensch begutachten, ausser seine eigenen», sondern: «Alle Aussatz-Schäden, die ein Mensch begutachtet aussen – sind seine eigenen». Mit dieser kleinen, aber genialen Korrektur der Interpunktion eröffnet Baal Schem Tov der Botschaft der Mischna eine unerkannte psychologische Tiefe: Oft, wenn wir Mitmenschen kritisieren und deren Taten beanstanden, ist dies ein Ausdruck dafür, dass wir uns selbst in ihren dubiosen Handlungen wiedererkennen. Wir rügen den Nächsten, aber was uns wirklich stört, ist, dass wir in seinen Taten unsere eigenen widerspiegelt sehen.

In der Psychologie umfasst der Begriff der «Projektion» unter anderem das Übertragen eines innerpsychischen Konfliktes, der im Widerspruch zu eigenen oder gesellschaftlichen Normen steht, auf andere Personen oder Menschengruppen. Lässt sich diese psychologische Erklärung des Baal Schem Tov womöglich auf die extrem hasserfüllte, eindimensionale und irrationale Israel-Kritik gewisser Europäer übertragen? Die Gedanken des israelischen Gesellschaftskritikers Netanel Azulay gehen in diese Richtung: «Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass viele Europäer den israelisch-palästinensischen Konflikt nutzen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Ihre Besessenheit mit Israel im Vergleich zu ihrem völligen Desinteresse an anderen Konflikten in der Welt lässt sich nicht rational erklären. Manche behaupten, die Völkermordlüge habe am 8. Oktober begonnen, doch die Wahrheit ist, dass sie schon viel früher begann. Es ist ein erstaunliches Mittel für gewisse Europäer, sich selbst zu reinigen, indem sie sagen: ‹Seht, die Juden begehen auch Völkermord, also sind wir patt, lasst uns mit den Sünden des Holocaust in Ruhe.› Das ist vielleicht auch der Grund, warum viele Aktivisten bereits behaupten, es gebe keinen Völkermord, sondern einen echten ‹Holocaust› in Gaza, und sie benutzen dafür die Bilder extrem magerer Kinder, die an unheilbaren Krankheiten leiden.» Auch die Haltung progressiver Kreise in den USA liesse sich gemäss Azulay mit deren inneren Gewissenskonflikten erklären: «Bei den Amerikanern ist es dasselbe. Sie können den Gedanken nicht ertragen, dass sie einerseits fortschrittlich sind, andererseits aber Nachkommen europäischer Kolonialisten, die in einem Land leben, das von den Händen der Einheimischen wahrhaft brutal erobert wurde. Wie können sie diesen Widerspruch in Einklang bringen? Durch Israel, durch den Juden, den sie bereit sind, noch einmal zu kreuzigen, damit er ihr Gewissen reinigt und die Sünden ihrer kolonialistischen Vorfahren auf sich nimmt. Den Juden, der im Gegensatz zu ihnen und Amerika eine jahrtausendealte Verbindung zu diesem Land hat(…)»

Ich weiss nicht, wie viele Prozent der europäischen und amerikanischen Israel-Hasser unbewusst an ihrer Vergangenheitsbewältigung leiden und ihr Gewissen auf Israel projizieren, aber es trifft bestimmt bei einigen zu. Bei gewissen antiisraelischen Hetzern und Aktivisten habe ich manchmal das Gefühl, dass ihr unermüdlicher «Einsatz» auf ihren eigenen «Aussatz» zurückzuführen ist.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn