Wie junge jüdische Menschen in der Schweiz ihr Selbstverständnis definieren und welche Rolle das Judentum als Quelle für die Zukunft spielt – eine Studie will da Grundlagen liefern.
Kurt Nordmann wollte genau das untersuchen. Dafür befragte der Psychologe, Unternehmer und Rabbiner 52 junge jüdische Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren aus unterschiedlichen religiösen, beruflichen und sozialen Kontexten und führte eine dreiteilige qualitative und quantitative Studie durch.
Seine Erwartung, sagt Nordmann im Gespräch, sei zunächst skeptisch gewesen: «Ich dachte, viele hätten mit dem Judentum nicht mehr so viel am Hut.» Er habe prüfen wollen, wie es um die Verbindung zwischen Tradition und moderner Lebenswelt steht. Der Impuls für das Projekt habe in der Sorge gelegen, dass sich ein wachsender Teil der jungen Generation innerlich vom Judentum entferne. «Wir sind ja kein Riesenvolk», sagt Nordmann. «Wir können es uns nicht leisten, viele zu verlieren.»
Alte Werte, aktuelle Relevanz
Am Anfang stand die Frage, ob die Werte und die Weisheit des über 3000 Jahre alten jüdischen Erbes für junge Menschen heute noch relevant und praktisch nutzbar sind. Erst wenn diese Aktualität erwiesen sei, so Nordmann, könne man darüber sprechen, was sich daraus für persönliche Lebenswege und berufliche Entscheidungen ableiten lasse. Sein Anliegen war es, das Judentum nicht als Verpflichtung oder Einschränkung darzustellen, sondern als etwas, das Orientierung, innere Stärke und Handlungsspielraum bietet. «Ich war der Meinung, man sollte den Young Professionals zeigen, was Judentum an Erfolgsfaktoren zu bieten hat», sagt er. «Nicht als Last, sondern als Chance.»
Nordmann beschreibt das Projekt als Versuch, eine Lücke zu schliessen: zwischen einer Generation, die nach Orientierung sucht, und einem Erbe, dessen Potenzial oft nur bruchstückhaft wahrgenommen wird. Dieses Verhältnis sieht er wie ein Grossvater, der sein Smartphone nur zum Telefonieren braucht. «Erst seine Enkelin zeigt ihm, was es wirklich kann: Navigation, Banking, Lernen, Fitness, Kommunikation. Er ahnt, dass es mehr Potenzial hat, als er bislang nutzt. So ist es auch mit dem Judentum: Viele kennen nur einzelne Funktionen, aber kaum die grosse Tiefe.»
Positiv überrascht
Die Ergebnisse überraschten ihn jedoch. Statt einer Generation, die sich abwendet, entstand ein Bild bemerkenswerter Verbundenheit mit jüdischer Identität und ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Zusammenhalt und Wirksamkeit. «Sie verstecken ihre Identität nicht», betont Nordmann. «Viele empfinden sie als Stärke und Rückgrat – gerade in einer Zeit der Verunsicherung.» Die Antworten wirken wie eine Momentaufnahme einer Generation, die zwischen globaler Unsicherheit und neuen gesellschaftlichen Realitäten ihren eigenen Weg sucht.
Familie im Zentrum
Besonders deutlich tritt der Stellenwert persönlicher Beziehungen hervor. 85 Prozent der Befragten nennen die Gründung einer Familie als Ziel für die nächsten zehn Jahre, 84 Prozent beschreiben die Familie als Hauptquelle von Sicherheit und Geborgenheit, 76 Prozent wünschen sich intensivere persönliche Kontakte. Diese Werte stehen im klaren Gegensatz zum gesellschaftlichen Trend zunehmender Isolation trotz ständiger digitaler Vernetzung. Für Nordmann zeigt sich hier eine zentrale Stärke des Judentums: ein Gegenentwurf zur Vereinzelung. «Wenn Sie die Wertegemeinschaft und die Traditionen verlieren, die Sicherheit geben, dann fehlt die Basis, an der man sich festhalten kann», sagt er. «Man kann in der virtuellen Welt sehr erfolgreich sein – aber ohne Rückhalt. Genau dort bietet das Judentum etwas Einmaliges.» Der Kern dieser Ressource sei die Familie: «Das Judentum baut auf der Familie auf. Das ist kein nostalgischer Blick zurück, das ist hochmodern.» Bemerkenswert ist, dass diese Haltung nicht an religiöse Praxis gebunden ist. Auch säkulare Befragte bewerten familiäre und gemeinschaftliche Strukturen als zentral.
Identität als Orientierungspunkt
Die Befragung zeigt ein differenziertes Verhältnis zur jüdischen Identität. Nur rund 50 Prozent der befragten jungen Erwachsenen gaben an, ihre jüdische Identität bewusst bewahren zu wollen. Diese Zahl wirkt nicht hoch, doch für Nordmann liegt gerade darin ihr Gewicht. «50 Prozent ist ja nur die Hälfte», sagt er. «Das zeigt, dass es ein realistisches Bild ist. Es waren ja keine ultraorthodoxen Befragten, sondern ein Querschnitt.» Für ihn ist die Zahl Ausdruck von Ernsthaftigkeit: Identität erscheine damit nicht als Automatismus, sondern als bewusste Entscheidung. «Viele wissen gar nicht genau, was das Judentum ist und was es ihnen geben kann. Der Nutzen spielt heute eine wahnsinnige Rolle, überall. Es heisst nicht mehr: Was bringe ich, sondern: Was bekomme ich.» Die Aufgabe sei daher nicht, Identität einzufordern, sondern Wissen und Zugänge zu schaffen, damit junge Jüdinnen und Juden überhaupt verstehen können, was dieses Erbe für ihr Leben bedeuten kann.
Gleichzeitig zeigen die Daten, dass viele junge Jüdinnen und Juden reale Herausforderungen wahrnehmen: Aussagen wie «Die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben ist eine Erschwerung für die soziale Akzeptanz» oder «Ich verspüre im Alltag Antisemitismus» finden Zustimmung. Dennoch wird die These «Ich vermeide es, mich in Gesellschaft als Jude zu erkennen zu geben» deutlich verworfen. Nordmann sieht in dieser Kombination ein Zeichen innerer Stärke: Identität werde nicht versteckt, sondern bewusst getragen, als Ressource, nicht als Belastung. Er beschreibt sie als «inneren Rahmen, der Orientierung gibt und nicht verloren geht, auch wenn sich Lebensumstände verändern».
Mehr als Karriere
Ein zentraler Teil der Befragung widmete sich der Frage, welche Ziele junge jüdische Erwachsene für ihre Zukunft formulieren. Besonders deutlich zeigt sich der Stellenwert beruflicher Entwicklung: 75 Prozent der Befragten streben in den kommenden zehn Jahren berufliche Stabilität oder Karriere an.
Nordmann nutzte das Modell des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, um zu verstehen, welche Bedürfnisse dabei priorisiert werden. Maslow unterscheidet fünf Stufen: von Grundbedürfnissen über Sicherheit und Zugehörigkeit bis zu Anerkennung und Selbstverwirklichung. Dass 54 Prozent der Teilnehmenden sich auf der Stufe der Anerkennung einordnen und 30 Prozent auf der Selbstverwirklichung, wertet Nordmann als klares Signal: «Sie wollen nicht einfach irgendeinen Job. Sie wollen etwas tun, das Wirkung hat», sagt er.
Für die Analyse beruft er sich zudem auf den Arbeitspsychologen Gery Bruederlin, der acht Schlüsselkompetenzen für beruflichen Erfolg benennt: Flexibilität, digitale Fähigkeiten, Lernbereitschaft, Eigeninitiative, Lösungskompetenz, soziale Kompetenz, Teamfähigkeit und Loyalität. Laut Nordmann finden sich alle diese Kompetenzen in der jüdischen Tradition wieder, von der Vielfalt rabbinischer Auslegungen über vernetztes Denken im Talmud bis zur Loyalität im Bundesschluss am Sinai. «Die Erfolgsfaktoren, die heute gefragt sind, sind in unserer Tradition seit Jahrtausenden angelegt», sagt er. Junge Menschen können darin Orientierung und Stärke in der Arbeitswelt finden.
Zukunftsvisionen
Auch die offenen Antworten zeigen klar erkennbare Tendenzen: Viele wünschen sich ein Leben in Israel oder in einem politisch sicheren Umfeld, andere betonen persönliches Wachstum, etwa durch Weiterbildung oder Reisen. Häufig genannt werden auch der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv in jüdischen oder gesellschaftlichen Kontexten einzubringen. Ergänzend wird finanzielle Sicherheit als langfristiges Ziel erwähnt. Insgesamt entsteht ein konsistentes Bild: Zukunft wird als Verbindung von persönlicher Entwicklung, Wirksamkeit und Verbundenheit mit jüdischer Gemeinschaft verstanden.
Gemeinschaft neu gedacht
Ob die Ergebnisse der Studie auch eine Orientierung für jüdische Gemeinden bieten können, führt im Gespräch mit Nordmann zu einer nüchternen Einschätzung. «Dass das Interesse junger Menschen an traditionellen Gemeindestrukturen gering ist, ist nicht sehr erfreulich», sagt er. Die Gründe seien vielfach pragmatischer Natur: In einer Lebensphase mit hohen Wohn- und Versicherungskosten sowie beruflicher Unsicherheit sei das Budget knapp. «Jede Ausgabe kann wehtun», sagt er. «Wenn dann der Eindruck entsteht, man wolle nur Geld, bleibt das Interesse bescheiden.»
Für Nordmann liegt hier jedoch eine Chance: Gemeinden müssten durch erlebbaren Mehrwert überzeugen. «Wenn Menschen spüren, dass ihnen das Judentum im Alltag etwas bringt, wächst auch die Bereitschaft, sich einzubringen.» Während familiäre Identität in der Studie als stark erscheint, wirkt die institutionelle Bindung deutlich schwächer. Daraus leitet Nordmann einen klaren Auftrag ab: Gemeinden sollten mehr sein als administrative Einheiten. «Sie müssen Orte werden, die zeigen, dass Gemeinschaft nicht Belastung ist, sondern Ressource.»
Vom Wissen zum Realisieren
Für Nordmann liegt die Kraft seines Projekts nicht im Sammeln von Daten, sondern in dem, was daraus folgt. Jüdische Identität sei kein nostalgischer Begriff, sondern ein Handlungsraum. «Wissen ist wunderbar», sagt er. «Aber es nützt mehr, wenn ich es realisiere. Das Tun ist im Judentum zentral. Wir leben vom Tun, nicht nur vom Denken.» Identität müsse gelebt werden, sonst verliere sie an Bedeutung. Tun bedeute Verantwortung zu übernehmen, im Beruf, in Beziehungen, in der Gestaltung jüdischer Zukunft. Sichtbar zu sein, statt sich zurückzuziehen. Räume zu schaffen, statt den Verlust zu beklagen. Die Umfrage zeige, dass viele junge jüdische Erwachsene bereit seien, diesen Weg zu gehen. «Das ist nicht als Theorie gedacht», sagt Nordmann. «Es soll den Einzelnen stärken, damit er weiss, dass er Jude ist und dass Identität eine Quelle von Kraft ist.»