schweiz-politik 22. Aug 2025

Eine Charta für Israel

SP-Pensionär Erich Bloch initiiert eine Charta für die SP.

Die Nahostpolitik der Schweiz sorgt immer wieder für kontroverse Debatten rund um und in der sozialdemokratischen Partei in der Schweiz – jüdische Mitglieder legen nun eine Charta vor.

In kaum einer Frage zeigt sich die Zerrissenheit der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz so deutlich wie derzeit beim Krieg in Gaza – während die einen mit Nachdruck Israels Regierung kritisieren, pochen andere auf Solidarität mit dem jüdischen Staat. Diese Spannungen spiegeln sich auch im politischen Raum wider, zuletzt besonders sichtbar in der Sozialdemokratischen Partei (SP). Ende Juni protestierten in Bern mehrere Tausend Menschen an einer von der SP mitorganisierten Grossdemons-tration, begleitet von Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften. Auf dem Bundesplatz prangerten Rednerinnen und Redner die humanitäre Situation in Gaza an. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth sprach von einer Politik Israels, die «Verbrechen» gleichkomme, auch Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss erhob deutliche Vorwürfe. Die Kundgebung brachte Zustimmung, löste jedoch auch Kritik aus, nicht zuletzt in jüdischen Kreisen. Jehoschua Ahrens, Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde Bern, warf der SP vor, sich nicht klar genug von extremistischen Akteuren abzugrenzen. Und selbst langjährige Mitglieder der Partei begannen, öffentlich ihre Distanz zu markieren.

Darunter auch Erich Bloch. Der 78-Jährige war jahrzehntelang eine prägende Figur der Sozialdemokratie: Mitglied im Grossen Stadtrat in Schaffhausen, Fraktionspräsident, Kantonsrat, Präsident der sozialistischen Jugend und Gewerkschaftssekretär. Vor mehr als zwanzig Jahren wanderte er nach Israel aus, wo er mit seiner Frau wöchentlich an Protesten gegen die Politik von Binyamin Netanyahu teilnahm. Gleichzeitig gründete er die «Antenne Israel» von SP International, engagierte sich als Delegierter der Auslandschweizer Organisation und blieb auch im Exil eng mit seiner Partei verbunden.

Doch je länger, desto öfter stiess er an Grenzen. Besonders die scharf israelkritischen Positionen einiger welscher Parteisektionen sowie Konflikte mit dem Schweizer SP-Politiker Carlo Sommaruga, von 2003 bis 2019 Nationalrat und seit 2019 Ständerat, führten dazu, dass Bloch die israelische SP-Antenne wieder auflöste, ein in der Parteigeschichte einzigartiger Schritt.

Als Bloch Ende 2024 aus gesundheitlichen Gründen in die Schweiz zurückkehrte und sich in Windisch niederliess, hoffte er auf Distanz. Doch die Berner Demonstration im Juni brachte das Fass für ihn zum Überlaufen. «Viele in der Partei blenden den Anfang des Krieges, das Massaker vom 7. Oktober, aus und reduzieren die Debatte auf die Bilder aus Gaza. Das wollte ich nicht länger hinnehmen», sagt er im Gespräch mit tachles.

Jüdische Sozialdemokraten
Aus dieser Empörung ist nun ein politisches Projekt entstanden: eine Charta jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Bereits rund 80 Unterschriften habe er dafür gesammelt, das Ziel seien mindestens 100. Damit wolle man ein Signal senden, nicht nur an die eigene Partei, sondern an die Öffentlichkeit. «In der Charta stehen wir zum Staat Israel, zum jüdischen Zionismus, wie wir ihn verstehen.» Der von einem Historiker verfasste Text soll in den kommenden Wochen veröffentlicht werden. Bloch betont, dass es nicht nur um ein Bekenntnis, sondern um klare Forderungen gehe. «Punkt eins ist die Befreiung der Geiseln. Punkt zwei ist die Beendigung des Krieges – mit einem Waffenstillstand.»

Ein weiterer zentraler Punkt ist für Bloch auch die Haltung gegenüber islamistischen Bewegungen. Die Demonstration in Bern habe für ihn ein Schlaglicht darauf geworfen, wie widersprüchlich die Solidarität der Linken manchmal aussehe. «Wie kann unsere Partei diesen Islamisten folgen, ohne dass je eine Frau eine Stimme hat?», fragt er. Der Anblick von Frauen mit Kufiyas, die Parolen riefen, stehe für ihn in starkem Kontrast zur Realität in vielen arabischen Gesellschaften, in denen Frauenrechte systematisch mit Füssen getreten würden. Und dennoch, so Bloch, werde dieser Protest oft verklärt «als vermeintliche Revolution gegen den Kolonialismus, mit Israel als angeblichem Brückenkopf der USA».

Für Bloch ist die Charta auch ein Mittel, jüdische Sichtbarkeit innerhalb der Sozialdemokratie zu sichern. «Wir jüdische Sozialdemokraten müssen Stellung nehmen, mit einem solidarischen Denken zu Israel», sagt er.

Kritik an Israel
Blochs Initiative steht dabei inmitten einer jüdischen Stimmenlandschaft, die zerrissener kaum sein könnte. Zahlreiche Persönlichkeiten äussern sich mit scharfer Kritik an Israels Regierung. Der Zürcher Künstler und Theatermacher Daniel Hellmann etwa schreibt: «Es fällt unglaublich schwer, den Kriegsverbrechen und Greueltaten der israelischen Regierung und Armee im Gazastreifen ins Gesicht zu schauen und anzuerkennen, dass hier eine ganze Gesellschaft systematisch zerstört wird. Doch wir müssen hinschauen und laut fordern, dass dieser Genozid gestoppt wird.» In ähnlicher Weise äussern sich die Regisseurin Stina Werenfels und die Kulturvermittlerin Rochelle Allebes, die ihre Verzweiflung über die fortgesetzte Gewalt zum Ausdruck bringen. Auch Daniela Friedmann und Michael Richter betonen, es gehe «jetzt nicht um Begriffsklärungen, sondern um Leben retten – ein urjüdisches Prinzip».

Unterstützung erhält diese Linie von dem 2024 gegründeten Jüdischen Forum Gescher. Es fordert, dass die Ablehnung von Hamas-Terror und Antisemitismus mit dem Einsatz für die israelischen Geiseln und die Zivilbevölkerung in Gaza zusammengedacht werden muss. Über 250 Personen, darunter auch Dreifuss, haben den Appell unterzeichnet, in dem es heisst, Netanyahus Politik verletze nicht nur das humanitäre Völkerrecht, sondern auch «unsere jüdischen und humanistischen Werte».

Auch im Juli wandten sich israelische Expats in einem Brief an Bundesrat Cassis mit der Forderung, den Druck auf Israel zu erhöhen. Bloch selbst hält davon wenig: «Diese Briefe bewirken doch nichts, man begegnet ihnen höchstens mit einem müden Lächeln, nicht mehr und nicht weniger.»

Jüdische Gegenstimmen
Bloch selbst betont, dass Solidarität mit Israel nicht heisst, Netanyahus Politik zu verteidigen. «Ich finde Netanyahus Kurs falsch, das ist bekannt. Auch die rechtsextremen Minister in seiner Regierung schaden Israel», sagt er. Dennoch soll seine Charta zu Israel und zum Zionismus stehen.

Ein Grund dafür liegt auch in der Wahrnehmung Israels im Westen. «Israel war immer schon schlecht in PR», sagt Bloch. Die Hamas dagegen sei perfekt vernetzt, auch in der Schweiz: «Ihre Propaganda funktioniert. Israel konnte machen, was es will, am Ende führt es immer zum Antisemitismus.»

Diese Stimmung spürt Bloch auch im Alltag: Aus Sorge vor Anfeindungen verzichtet er darauf, jüdische Symbole sichtbar zu tragen. Gleichzeitig hält er es für umso wichtiger, dass jüdische Stimmen in der SP nicht verstummen, sondern öffentlich Position beziehen.

Bloch und die Unterzeichner seiner Charta stehen damit nicht allein. Auch andere jüdische Stimmen in der Schweiz betonen ihre Solidarität mit Israel und verweisen darauf, dass das Land das Recht hat, sich gegen Terror zu verteidigen. Unterstützung erhält diese Haltung auch von der Gesellschaft Schweiz–Israel, die im August ein Positionspapier veröffentlichte, das die Anerkennung Palästinas als Staat entschieden ablehnt. Eine Anerkennung würde aus ihrer Sicht letztlich die Hamas legitimieren. Eine Lösung könne es nur in einem ernsthaften Friedensprozess geben, nicht durch symbolische Akte.

Für Bloch zeigt das, dass seine Initiative Teil eines grösseren Spektrums jüdischer Solidarität mit Israel ist. «Wir wollen zeigen, dass die jüdische Gemeinschaft nicht nur in Kritik verharrt, sondern dass es auch klare Stimmen gibt, die zu Israel stehen», sagt er.

Ein Spiegel der Spaltung
So spannt sich der Bogen weit: von scharfer Kritik an Israels Regierung bis zu Solidaritätsbekundungen, von internationalen Briefen bis zu parteiinternen Initiativen. Blochs Charta markiert den Versuch, jüdischen Sozialdemokraten in der Schweiz ein eigenes Profil zu geben und eine klare Gegenstimme in einer Debatte zu setzen, die die jüdische Gemeinschaft ebenso wie die Schweizer Politik spaltet.

Für Bloch ist das auch ein Stück politischer Rückblick. «Vor Jahrzehnten war Israel ein Thema, hinter dem die Linke noch stand», erinnert er sich. «Ich denke an den früheren Parteipräsidenten Christian Levrat, der oft nach Israel kam. Als ich ihn mal fragte, weshalb ihm Israel so am Herzen liegt, meinte er: ‹Israel könnte doch unser Verbündeter sein.›» Die nun geplante Charta sieht Bloch als Fortsetzung dieser Tradition und zugleich als Vermächtnis: «Es wird wohl einer meiner letzten Versuche in meinem reichhaltigen politischen Leben sein.»

Emily Langloh