im Gespräch 19. Sep 2025

Der Schrei nach Leben

Die Ärzte Raffael Guggenheim und Egon Garstick machen die Sprechstunde zum Buch.

Ein Gespräch mit den Autoren von «Die Schreibaby-Sprechstunde» über Hilflosigkeit, kulturelle Unterschiede und Wege aus dem Teufelskreis.

tachles: Das Szenario kennt fast jeder: Ein Baby schreit ununterbrochen – im Bus, im Flugzeug oder im Supermarkt. Passanten spüren den Stress, die Blicke richten sich auf die Eltern – meist auf die Mutter – und man fragt sich: Soll man helfen, sich einmischen oder besser wegschauen?
Raffael Guggenheim: Das ist eine schwierige Frage, weil sich viele nicht trauen, etwas zu sagen. Aber ich denke, wir sollten uns als Gesellschaft wieder trauen, vorsichtig anzubieten: «Kann ich helfen?» Schon eine kleine Geste kann für die Eltern entlastend sein. Es geht nicht darum, sich als Fachperson einzumischen oder gar Ratschläge zu erteilen, sondern empathisch zu signalisieren: «Ich sehe, dass Sie gerade sehr gestresst sind.» Ich habe das selbst einmal im Flugzeug erlebt, wo ein Baby über Stunden geschrien hat. Ich habe mich der Mutter freundlich zugewandt und gefragt, ob ich ihr etwas abnehmen kann oder ob ich ihr ein Glas Wasser holen soll. Oft genügt schon so ein kurzer Moment, um den Druck zu senken und das Gefühl zu vermitteln: «Du bist nicht allein mit dieser schwierigen Situation.»

Egon Garstick: Ich finde es genauso wichtig, dass auch nonverbale Kommunikation ihren Platz hat. Ein wohlwollender Blickkontakt kann für eine Mutter, die sich von allen Seiten kritisch beäugt fühlt, sehr entlastend sein. Viele Eltern gehen gar nicht mehr mit ihrem schreienden Baby nach draussen, weil sie die «bösen Blicke» fürchten. Diese Blicke sind oft verurteilend und vermitteln das Gefühl: «Du machst etwas falsch.» Ein verständnisvoller Blick hingegen öffnet Raum und zeigt: «Ich sehe deine Not, und ich verurteile dich nicht.» Das kann schon sehr viel bewirken.

Das Buch «Die Schreibaby-Sprechstunde» basiert auf Ihrer Arbeit am Stadtspital Triemli in Zürich. Was war der Auslöser dafür?
Egon Garstick: Die Initiative kam ursprünglich von engagierten Pflegefachfrauen, die sahen, wie erschöpft und verzweifelt manche Eltern waren. Anfangs bestand die Tendenz, das Kind einfach im Spital zu betreuen, damit die Mutter sich ausruhen kann. Das hilft kurzfristig, doch wir merkten schnell, dass die Mutter-Kind-Beziehung dabei zu wenig berücksichtigt wurde. So entstand unser transdisziplinäres Konzept: Pflege, Medizin und Psychologie arbeiten zusammen, um nicht nur das Kind, sondern die gesamte Familiensituation in den Blick zu nehmen. Es war ein längerer Prozess. Wir mussten lernen, die verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen – die medizinische Sicht, die psychologische Sicht und die pflegerische Sicht. Erst wenn diese drei Bereiche miteinander sprechen, können wir Eltern wirklich nachhaltig unterstützen.

Raffael Guggenheim: Wir haben gesehen, dass das Thema Schreibabys in vielen Fachbereichen kaum verankert ist. Kinderärzte, Psychologinnen und Pflegende betrachten es jeweils aus ihrer eigenen Perspektive – ohne Verbindung zueinander. Für die Eltern bedeutet das, dass sie oft keinen Ort finden, wo ihre komplexe Situation verstanden wird. Viele bekommen einfach einen starren «Plan» – etwa zur Schlafberatung – und fühlen sich damit alleingelassen. Unser Ziel war es, ein Buch zu schreiben, das Fachpersonen wie Eltern neue Perspektiven eröffnet. Es beschreibt nicht nur Methoden, sondern lädt ein, die Haltung zu ändern: weg vom Schuldzuweisen hin zu einem gemeinsamen Verständnis der Familie als System.

In den Medien taucht immer wieder das Thema «Schütteltrauma» auf, also extreme Situationen, in denen Eltern ihr Kind im Stress schütteln, was lebensgefährlich sein kann. Wie häufig ist das?
Egon Garstick: Das tatsächliche Schütteltrauma ist glücklicherweise selten. Es sind die absoluten Extremfälle, die dann in die Medien kommen. Aber Situationen, in denen Eltern aggressive Gefühle gegenüber ihrem Baby entwickeln, sind keineswegs selten. Wenn ein Baby ununterbrochen schreit, fühlen sich Eltern oft hilflos und beginnen, an sich selbst zu zweifeln: «Ich kann mein Kind nicht beruhigen – was stimmt mit mir nicht?» Diese Verzweiflung kann gefährlich werden, wenn sie unausgesprochen bleibt. Unser Ansatz ist es, einen Raum zu schaffen, in dem auch diese dunklen Gedanken ausgesprochen werden dürfen, ohne Angst vor Verurteilung. Erst wenn Eltern ihre Wut oder Überforderung benennen dürfen, ohne dafür beschämt zu werden, kann sich etwas verändern.

Raffael Guggenheim: Es gibt auch «emotionale Schütteltraumata». Eltern handeln nicht gewalttätig, aber sie erleben Momente, in denen sie innerlich «austicken». Das Kind spürt diese Emotionen sehr deutlich. Wenn diese Erlebnisse nicht aufgearbeitet werden, bleibt ein tiefes Schuldgefühl zurück. Dieses Schuldgefühl kann später zu wiederkehrenden Konflikten führen – in der Erziehung oder im eigenen Selbstbild als Mutter oder Vater. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern frühzeitig Unterstützung erhalten, bevor aus einem emotionalen Ausnahmezustand eine gefährliche Handlung wird.

Viele fragen sich: Wird ein Baby zum Schreibaby «gemacht» – durch äussere Umstände – oder bringt es diese Problematik schon mit?
Raffael Guggenheim: Ein Schreibaby ist zunächst einmal ein Baby, das mehr schreit, als seine Eltern aushalten können. Der Punkt, an dem das «zu viel» wird, ist sehr individuell: Für manche ist eine Stunde Schreien erträglich, für andere schon fünf Minuten nicht. Die Ursachen können sehr vielfältig sein: Manche Babys sind von Geburt an empfindsamer, andere reagieren auf Spannungen in der Familie. Auch eine schwierige Geburt oder eine belastende Schwangerschaft können eine Rolle spielen. Wir sehen nicht nur das Kind oder die Eltern isoliert, sondern betrachten die gesamte Konstellation.

Egon Garstick: Viele Eltern suchen die Schuld bei sich. Sie denken etwa: «Ich war in der Schwangerschaft gestresst» oder «Die Geburt lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe – deshalb schreit mein Kind». Solche Gedanken sind oft quälend. Unsere Aufgabe ist es, diese Fantasien zu entschärfen. Eltern sollen frei werden für die Gegenwart und erleben können, dass auch schwierige Babys beruhigt werden können. Erst wenn die Eltern entlastet sind, kann eine gesunde Bindung entstehen.

Wir sprechen dabei gern vom «Engelskreislauf»: Wenn Eltern Vertrauen gewinnen, entsteht eine positive Rückkopplung. Das Baby wird ruhiger, die Eltern fühlen sich sicherer, und die Beziehung entwickelt sich gesund.

Gibt es Möglichkeiten, schon vor der Geburt präventiv etwas zu tun?
Egon Garstick: Früher gab es ausführliche Geburtsvorbereitungskurse, heute sind es oft nur noch Crash-Kurse am Wochenende. Da bleibt wenig Raum, um Eltern realistisch darauf vorzubereiten, dass das echte Baby nicht immer den Erwartungen entspricht. Manche Ärzte und Ärztinnen befürchten, dass zu viele Informationen vor der Geburt eher Angst machen könnten. Ich glaube aber, ein gewisses Mass an Vorbereitung wäre sehr hilfreich – etwa, indem man Eltern darauf hinweist, dass nicht jede Geburt perfekt verläuft und dass es völlig normal ist, wenn sich die erste Zeit mit dem Baby anders anfühlt als erträumt.

Raffael Guggenheim: Ich bin überzeugt, dass wir so etwas wie einen «Autofahrkurs» für Eltern brauchen. Wer Auto fährt, lernt Verkehrszeichen und reagiert automatisch auf ein Stoppsignal. Eltern sollten lernen, die Signale ihres Babys zu erkennen – und zu wissen, wann sie Hilfe suchen müssen. Je früher sie das tun, desto eher lässt sich ein Teufelskreis verhindern.

Ein gutes Beispiel ist der Safe-Kurs von Karl-Heinz Brisch. Er stärkt die Empfindsamkeit der Eltern für die Bedürfnisse ihres Kindes. Leider machen solche Kurse oft gerade die Eltern nicht, die sie am dringendsten bräuchten. Deshalb wäre es wichtig, dass Hebammen und Kliniken hier stärker aufklären und entsprechende Angebote schaffen.

Sie beschreiben im Buch kulturelle Unterschiede. Welche Rolle spielt das Umfeld?
Raffael Guggenheim: Enorme! In Kulturen, in denen mehrere Generationen unter einem Dach leben oder ein ganzes Dorf an der Erziehung beteiligt ist, gibt es viel Entlastung. Eine Grossmutter, Tante oder Nachbarin kann einspringen, wenn die Eltern erschöpft sind. In modernen Kleinfamilien hingegen – besonders bei Alleinerziehenden – sind die Eltern oft völlig auf sich gestellt. Das macht die Situation viel schwieriger.

Egon Garstick: Ich erinnere mich an eine indische Familie, die in der Schweiz lebte. Sie waren mit zwei kleinen Kindern völlig überfordert. Als ich fragte, wie es wäre, wenn sie in Indien wären, begannen sie zu weinen: Dort hätten sie Grosseltern, Geschwister, Tanten – ein ganzes Netz, das trägt. Hier waren sie allein. Diese Vereinsamung ist ein grosses Problem unserer Gesellschaft. Hinzu kommt der Druck, alles perfekt zu machen: perfekte Eltern, perfekte Karriere, perfekte Beziehung. Viele Mütter und Väter schämen sich, Hilfe anzunehmen, weil sie glauben, versagt zu haben. Dabei ist es völlig normal und gesund, Unterstützung zu suchen. Kinder brauchen ein ganzes Dorf, auch wenn wir heute meist in kleinen Wohnungen und nicht mehr in Dörfern leben.

Was wünschen Sie sich – dass Eltern Ihr Buch lesen oder direkt in die Sprechstunde kommen?
Egon Garstick: Am wichtigsten ist, dass Eltern sich trauen, Hilfe zu suchen – sei es bei der Mütter- und Väterberatung, bei Kinderärzt:innen oder in spezialisierten Sprechstunden. Unser Buch richtet sich in erster Linie an Fachpersonen. Wir hoffen, dass mehr Kinderärztinnen, Psychotherapeutinnen und Hebammen transdisziplinär zusammenarbeiten und ähnliche Konzepte entwickeln. Für Eltern selbst werden wir vielleicht eines Tages ein noch zugänglicheres Buch schreiben, das einfacher und alltagsnäher ist.

Raffael Guggenheim: Dem kann ich mich nur anschliessen. Unser Ziel ist, den Teufelskreis aus Überforderung, Schuldgefühlen und Hilflosigkeit zu durchbrechen – damit aus einem Teufelskreis wieder ein «Engelskreislauf» wird. Jede Familie, die wir begleiten, zeigt uns, wie viel Hoffnung möglich ist, wenn wir gemeinsam hinschauen.

Egon Garstick, Raffael Guggenheim: Die Schreibaby-Sprechstunde – Eltern und ihre Kinder pädiatrisch-psychologisch begleiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2025.

Yves Kugelmann