BASEL 26. Mai 2023

Begabte Sänger

Das Neue Kino hat den Anspruch, «politisch unbequeme, ästhetisch innovative oder regional brisante Werke» zur Aufführung zu bringen.

Das Neue Kino in Basel legt in seinem aktuellen Monatsprogramm den Fokus auf jiddische Musicals aus dem New York der 1930er Jahre.

Unter dem Motto «Yiddish Musicals» zeigt das Neue Kino im Juni vier Musikfilme in jiddischer Sprache. Es sind Melodramen, Komödien oder Liebesgeschichten, die in den 1930er Jahren in den USA produziert wurden. Ausgesucht hat die Filme Laurent Gelman, der seit 15 Jahren im Verein Neues Kino aktiv ist. Bereits 2013 hat der Molekularbiologe unter dem Titel «Versteht mich noch jemand?» eine Reihe mit Filmen auf Jiddisch im Neuen Kino organisiert. Sein Interesse an der Sprache ist familiär bedingt, Jiddisch ist die Muttersprache seiner Grosseltern. Bei der Auswahl des aktuellen Programms war ausschlaggebend, dass in den Filmen Musik eine grosse Rolle spielt: liturgische Gesänge, romantische Lieder oder kitschige Schlager. Gemäss dem amerikanischen Filmkritiker James Lewis Hoberman begann das sogenannte goldene Zeitalter des jiddischen Kinos 1935 mit der Modernisierung der polnischen Filmindustrie. In Polen lebten damals über drei Millionen Juden und die ersten in diesem Land produzierten jiddischen Tonfilme regten Produzenten in den USA an, wo bereits seit 1929 jiddische Tonfilme gedreht wurden. Zwischen 1937 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges feierten 23 jiddische Filme Premiere in New York – ein Drittel davon war in Warschau produziert worden.

Generationenkonflikt
Drei der vier Filme, die das Neue Kino zeigt, fallen in diese Hochphase des jiddischen Kinos: «Dem Khazns Zundyl» («Der Sohn des Kantors»), «Der Lebediker Yusem» («Das lebende Waisenkind») und «Kol Nidre», alle in den USA produziert. Der letzte dieser Filme, «Kol Nidre», ist ein Repräsentant des beständigsten Genres des amerikanisch-jiddischen Kinos, des Familien-Melodramas. Die junge Jenny widersetzt sich dem Wunsch ihrer Eltern, den Rabbiner und Freund aus Kindertagen Joseph zu heiraten und entscheidet sich stattdessen für den Lebemann Jack, den sie ebenfalls aus der Schulzeit kennt. Der Film dramatisiert den Konflikt zwischen den mehrheitlich nach amerikanischen Gepflogenheiten lebenden Kindern und ihren Eltern, die noch in der Welt des osteuropäischen Stetls verhaftet sind. Er nimmt die Ängste neu nach Amerika gekommener Menschen und den Effekt der «Neuen Welt» auf traditionelle Werte auf. Wie viele jiddische «Shund»-Dramen (billig produziert und übersteigert) ist «Kol Nidre» eine «originelle Mischung aus verschiedenen Themen und Stilen, die das Fami-liendrama und Romantik mit Liedern und Kantorenmusik verbindet» (National Center for Jewish Film).

Ruf der Tradition
Kantorenmusik und die Frage «Was ist Amerika?» spielen auch eine tragende Rolle im Film «Dem Khazns Zundyl» («Der Sohn des Kantors»). Protagonist Shloime, Sohn eines Kantors, verlässt noch als Knabe sein Stetl, um mit einer Gruppe umherziehender Schauspieler zu leben, mit denen er schliesslich nach Amerika auswandert. Dort begeistert er mit seiner Stimme erst die Besucher der Varietés an der 2nd Avenue, ehe er Amerikas grösster Kantor wird. Mit diesem neugewonnenen Status wagt er es, den 50. Hochzeitstag seiner Eltern, die er damals ohne Abschied verlassen hat, zu besuchen. Im Stetl sucht er jedoch auch sein in den Staaten verlorenes Selbst, das er schliesslich dank der Tradition findet. Moshe Oysher, der Schauspieler, der Shloime verkörpert, war im echten Leben auch ein Chasan, Nachkomme von sieben Generationen von Kantoren. Nach zahlreichen Filmen, Bühnenspielen und Radioauftritten kehrte er zur Arbeit als Kantor zurück und verdiente sich einen guten Ruf als Chasan. Hier wird deutlich, warum die Wahl des Neuen Kinos auf jiddische Musikfilme fiel: Wenn die Filme auch mit wenig Budget und rein zur Unterhaltung gedreht wurden und über die schauspielerische Darstellung gestritten werden kann, so wurden sie immer mit guten Sängerinnen oder Sängern gedreht. Komplementiert wird das Filmprogramm, das durch die Zusammenarbeit mit Lisa Rivo und dem National Center for Jewish Film ermöglicht wurde, durch «Zayn Vaybs Lubovnik» («Der Liebhaber seiner Frau») aus dem Jahr 1931. Zudem hat das Neue Kino mit Shifra Kuperman, Lehrbeauftragte für Jiddisch am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, zusammengearbeitet. Kuperman hat dieses Semester einen Kurs zum jiddischen Kino angeboten, in dem Studentinnen und Studenten für drei der Filme Filmkritiken erarbeitet haben. Diese werden an der Abendkasse aufliegen. Die Filme werden jeweils mit englischen Untertiteln im Juni am Donnerstag- und Freitagabend gezeigt.
Neues Kino, Hinterhaus Klybeckstrasse 247, Basel.
www.neueskinobasel.ch

Sarah Leonie Durrer