BERN 18. Jul 2025

Aussicht ohne Perspektive?

Die Promenade an der Casinostrasse in Bern soll Standort des Memorial werden.

Nach über zwei Jahren andauernden Abklärungen hat das Departement von Bundesrat Ignazio Cassis den Standort für den Berner Gedenkort an die Opfer des Nationalsozialismus bekannt gegeben.

Im Februar 2022 kommentierte der damals im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit den Vorarbeiten zu einem Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus befasste Botschafter Simon Geissbühler gegenüber tachles: «Wir wollen das Projekt vorwärtstreiben, denn wir sind mit einer Tendenz konfrontiert, die den Holocaust zunehmend aus der Erinnerung verdrängt. Das ‹Nicht-wissen-Wollen› ist leider weit verbreitet. Darum drängt es.» Wenige Monate darauf hatten National- und Ständerat der Regierung gleichlautende Motionen überwiesen, die den Bundesrat dazu aufforderten, einen nationalen Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus zu errichten. An seiner Sitzung vom 26. April 2023 bewilligte dieser dann 2,5 Millionen Franken für die Realisierung eines Erinnerungsortes, der in Bern errichtet werden und frei zugänglich sein sollte. Das EDA wurde beauftragt, bis zum Sommer 2023 eine entsprechende Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Stadt Bern auszuarbeiten. Das war vor über zwei Jahren.

Standort steht fest
Vergangene Woche meldete das Departement nun den Vollzug des bundesrätlichen Beschlusses und teilte mit: «Der Standort steht fest, das Programm für den Wettbewerb ist erstellt und die Jury eingesetzt. Der Gemeinderat der Stadt Bern stellt das Areal auf der Casinoterrasse für die Errichtung des Erinnerungsortes zur Verfügung.» Die Begründung zur Wahl des Standorts liest sich blumig: «Die Casinoterrasse ist ein geschichtsträchtiger und malerischer Ort mit hoher Aufenthaltsqualität. Ihre zentrale Lage in der Nähe des Bundeshauses, die eindrucksvolle Aussicht und die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten machen sie zu einem beliebten öffentlichen Platz.» Das an solch hoher «Aufenthaltsqualität» (!) zu errichtende Memorial soll laut EDA «die Erinnerung an die Folgen des Nationalsozialismus und das Schicksal der sechs Millionen ermordeten Juden und aller anderen Opfer des NS-Regimes wachhalten und dabei besonders auf diejenigen Verfolgungsgeschichten fokussieren, die einen Bezug zur Schweiz aufweisen. Zu denen gehören die Schweizer und Schweizerinnen, die vom nationalsozialistischen oder faschistischen Regime verfolgt, entrechtet und ermordet wurden, und die Flüchtlinge, denen die Schweizer Behörden durch eine restriktive Flüchtlingspolitik die Rettung verweigerten.»

In der Steuerungsgruppe des Projektes «Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus» ist der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) von Anbeginn massgeblich präsent. Als institutionell verankerte und gesellschaftlich relevante Institution sei er «inhaltlich, strukturell und konzeptionell beteiligt und bringt sich als Mitinitiant des Gesamtprojekts aktiv ein.» Soweit die Verlautbarungen.

Nächster Meilenstein zur Realisierung des Memorials am Gedenkort Casinoterrasse wird das Resultat eines international ausgeschriebenen Wettbewerbs zu dessen Realisierung sein. Dazu ist eine Preisjury einberufen worden, in der auch der SIG durch dessen Präsidenten Ralph Friedländer vertreten ist. Eine vorbereitende Fachjury wird von der gremienerfahrenen Kuratorin Madeleine Schuppli geleitet. Ebenfalls aufgeboten wurden mit weiteren Fach-Juroren die Genfer Gedenkstätten-Museologin Brigitte Sion sowie der in Luzern lehrende Experte für Public History Peter Gautschy. Der Wettbewerb soll Anfang 2026 mit der Prämierung abgeschlossen sein. Die Fertigstellung des Siegerprojekts ist für 2028 vorgesehen.

Kooperation mit Museum
Eine besondere Herausforderung an die Wirksamkeit des Berner Mahnmals wird dessen Verknüpfung mit den zwei weiteren Bausteinen des Gesamtvorhabens darstellen. Unter dem Dreiklang «Erinnern, Vermitteln, Vernetzen» sind derzeit weitere Konzepte in Arbeit. Im Sankt-Gallischen Grenzort Diepoldsau soll in enger Zusammenarbeit mit dem in Vorarlberg beheimateten Jüdischen Museum Hohenems (JMH) ein Ort der Vermittlung aufgebaut werden. Dieser wird – so die Initianten – die Geschichte der Flucht während der Zeit des Nationalsozialismus ins Zentrum seiner Inhalte stellen. Der Kanton St. Gallen und das Fürstentum Liechtenstein beteiligten sich an den bisherigen Vorkosten. In Wien ist aktuell eine diesbezügliche Parlamentarier-Anfrage bei der Regierung hängig. Das dritte Element zur Implementierung einer dauerhaften Erinnerungskultur für die Schweiz soll ein dezentrales Netzwerk bilden.

Koordinationsgruppe
Um möglichst viele Erinnerungsorte, wie etwa Stolpersteine oder regionale Aufarbeitungen von Zeitgeschichte, wie zum Beispiel die frei finanzierte Gedenkstätte in Riehen bei Basel, zu vernetzen und sichtbarer zu machen, wurde Anfang 2025 in Zürich unter dem Vorsitz des Historikers Gregor Spuhler der Verein «Netzwerk Schweizer Memorial an die Opfer des Nationalsozialismus» ins Leben gerufen. Dieser wird vom Bundesamt für Kultur finanziert. Gegründet wurde dieser vom SIG, dem Kanton St. Gallen, dem Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH und der Stadt Bern. Wie diese Woche bekannt wurde, wird der Netzwerkverein nun auch die Zuständigkeit für den geplanten Vermittlungsort in Diepoldsau übernehmen. Dazu wurde mit dem JMH jüngst eine bis 2028 geltende Leistungsvereinbarung zur Entwicklung dieses transnationalen Vermittlungsorts abgeschlossen.

Um was geht’s?
Von diesen drei sehr unterschiedlich zu konzipierenden Elementen einer zukünftigen Erinnerungs- und Gedenkkultur wird das Berner Memorial als Erstes sichtbar werden. Auch wenn sich die Stadt zu dessen Pflege und Unterhalt verpflichtet hat, so wird viel davon abhängen, wie aktiv, kreativ und mit welchen Mitteln dessen Trägerschaft den Ort im Sinn seiner Bestimmung mit Ausstrahlung versehen kann. Denn anders als in den meisten Hauptstädten, wo Mahnmale und Erinnerungsorte an das gelernte Narrativ der Nationalgeschichte anknüpfen und wo an Gedenktagen Kerzen entzündet und Kränze niedergelegt werden, war dafür in der Schweiz nie Bedarf. Bleibt also die Frage: Worum geht es auf der Casinoterrasse, diesem «malerischen Ort im Herzen der historischen Altstadt von Bern», wie das EDA in seiner Medienmitteilung frohlockt? Ein «beeindruckender Aussichtspunkt» sei es und die «vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten» machten die Casinoterrasse «zu einem beliebten öffentlichen Platz», wird der Standort zudem gelobt. Solches vermittelt den Eindruck, als ob die örtlichen Platzhalter dem zukünftigen Gedenkort zunächst mit fremdenverkehrstauglichem Zweckoptimismus entgegensehen. Auf die Frage, wie es um ein Swiss Memorial vor diesem Panorama einer Postkarten-Schweiz bestellt sein wird und was es dereinst bewirken mag, wird die Antwort noch eine Zeit lang auf sich warten lassen.

Gabriel Heim