das jüdische logbuch 09. Jun 2023

Simularitäten in Unzeiten

Danzig, Juni 2023. Die blühende jüdische Geschichte in der Hafenstadt Danzig an der polnischen Ostseeküste fand ihr jähes Ende mit dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939. Die meisten Juden wurden ermordet, vertrieben, das jüdische Leben ebenso zerstört wie die prächtige Synagoge mit 2000 Plätzen. Heute leben noch knapp 100 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Mateusz ist in Polen geboren. Er ist knapp 30, in einem Monat wird er Vater. Das jüdische Erbe in Danzig sei kaum präsent, die Synagoge unweit vom Zentrum meistens geschlossen. Anders kennt er es von seinen Reisen durch andere Teile Polens, wo an die jüdische Vergangenheit und das ausgelöschte Judentum erinnert wird. Da eine Erinnerungstafel an 40 000 erschossene Häftlinge, dort ein Mahnmal an Tausende ermordete Juden. Mat, wie er sich nennt, ist in Danzig aufgewachsen. Eine prächtige Stadt, junge Menschen prägen das Strassenbild und die Geschichte im Kampf für die Freiheit. Die Werft von Danzig ist zum Symbol für den friedlichen Widerstand gegen die Obrigkeiten geworden, als damals der junge Lech Walesa mit der Solidarnosc den Kampf für die Freiheit anführte. Die Gewerkschaft ging aus der Streikbewegung der Arbeiterschaft hervor. Als der damalige deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher Walesa 1981 zu einem informellen Gespräch traf und nach dem Ziel des Aufstands fragte, antwortete dieser: «Wir werden die Berliner Mauer einreissen, wir werden den Kommunismus niedermachen.» Walesa wurde nach der Ausrufung des Kriegsrechts interniert, erhielt den Friedensnobelpreis, wurde nach der Wende Präsident der dritten polnischen Republik und blieb ein pazifistischer Verfechter des Freiheitskampfs. Als die Gewerkschaft Anfang der 2000er Jahre den Schulterschluss mit der rechtsnationalen Partei PiS schloss, trat er aus. Am letzten Wochenende war der 80-jährige wieder als Widerstandskämpfer zu sehen, als Hunderttausende gegen die aktuelle Justizreform in Polen auf die Strasse gegangen sind. Bilder, wie sie sich in Israel an jedem Wochenende abspielen. Aus allen Teilen der Bevölkerung gehen Menschen auf die Strasse und kämpfen überparteilich für die liberale Demokratie, für Gewaltenteilung und Freiheitsrechte. Walesa, der selbst immer wieder in der Kritik war, nachdem ihm seit 2015 Agententätigkeit unter dem kommunistischen Regime vorgeworfen wurde, plädiert im Gespräch mit tachles für drei Dinge: kontinentale statt nationale Lösungen der wirtschaftlichen und anderen Herausforderungen in Europa, für Pressefreiheit und unabhängige Gerichte. Er sitzt an diesem Morgen in der Bibliothek des Europäischen Zentrums der Solidarnosc. Das Zentrum erzählt die Geschichte der friedlichen Bewegung, an deren Ausgangspunkt zehn Jahre vor Gründung der Gewerkschaft die Ermordung von rund 80 streikenden Arbeitern durch die Volksgarden stand. Das Haus füllt sich mit Schulklassen und jungen Menschen, die das moderne Zentrum im Kontext aktueller Entwicklungen sehen. Um die Ecke im ehemaligen Hauptsitz der Gewerkschaft prangt ein grosses Plakat mit Papst Johannes Paul II. Er und damit die Kirche solidarisierten sich mit den Anliegen der Solidarnosc, was dazu führte, dass die Gewerkschaft innert eines Jahres Millionen von Mitgliedern erhalten hat. Heute, so sagt Mat, spielt Religion in Polen kaum mehr eine Rolle und die Kirche sei umstritten. Mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. hätte die junge Generation übernommen. Im Gespräch mit tachles nennt Walesa diese schmunzelnd die «säkularen Gläubigen». Walesa sieht Europa in einer Zwischenepoche, die technologische Herausforderung für die Demokratien eher als Chance denn als Gefahr und hofft darauf, dass die jungen Menschen von heute die Freiheit zurückerobern, gerade in Polen und Ungarn. Damit dies nachhaltig geschehen könnte, erinnert er immer wieder an die wirtschaftspolitische Verantwortung von Deutschland und Frankreich. Walesa ist eine historische Figur der Zeitgeschichte, sieht sich aber nicht als solche. Das Zentrum zwischen der Werft und dem Mahnmal für die Opfer der verschiedenen Aufstände ist keine Pilgerstätte der Nostalgie, sondern ein Ort, an dem Demokratie und der permanente Einsatz für sie thematisiert wird. «Geht wählen!» heisst es auf einem Plakat von 1989 und es ist die programmatische Aufforderung zur Partizipation. Polen ist mit dem Krieg von Russland gegen die Ukraine einmal mehr ein wichtiges Scharnierland zwischen Ost und West geworden. Bei allem historisch begründeten Misstrauen gegenüber Deutschland, ist auch vor dem Krieg jenes gegenüber Russland viel grösser geblieben. Die Debatte um polnische Forderungen nach Reparationszahlungen aus Deutschland verortet Walesa im Populismus der aktuellen rechten Regierung. Populismus, Demagogie und Manipulation durch verlogene Politiker sind für Walesa die grössten Bedrohungen der Gegenwart. Mit 80 ist er wieder auf der Strasse bei Demonstrationen anzutreffen in einem Kampf, der längst ein globaler geworden ist. Die jungen Menschen Israels und Polens kämpfen zusammen gegen rechte Regierungen, die Bedrohung der liberalen Demokratie und für neue Verfassungen. Dass dieser Kampf ohne Waffen zu gewinnen ist, hat Walesa mit der Solidarnosc bewiesen. Die Bewegung riss den kommunistischen Regimen jene Steine aus der Mauer, die sie letztlich zum Einsturz gebracht haben.

Jetzt muss die Generation von Mat übernehmen, wenn er sagt: «Ich kämpfe für eine freies Polen ohne Nationalismus.» Seine grünen Augen strahlen beim Abschied. In einem Monat wird er Vater sein. «Ich bin schon total aufgeregt.» Und er fügt an: «Unser Kind soll in einem vereinten liberalen Europa aufgewachsen. Dafür setzen wir uns ein.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann