Das jüdische Logbuch 14. Sep 2018

Kohns letzter Schachzug

Zürich, September 2018. Erew Rosch Haschana ist ein prächtiger, heisser Tag. Auf dem Oberen Friesenberg versammelt sich eine kleine Gemeinschaft in der Abdankungshalle des jüdischen Friedhofs. Nach Psalmengebet und Worten der Würdigung begleitet der Trauerzug den Verstorbenen Michael Kohn zur letzten Ruhestätte. Dort wird er im Familiengrab beigesetzt. Es wird das Totengebet Kaddisch gesprochen. Die Natur, die im Sonnenlicht grün leuchtenden Bäume, der dichte blaue Himmel, singende Vögel und der weite Blick hinunter auf Zürich haben etwas beruhigend Versöhnliches in einem Moment, der es nie sein kann und bei Michael Kohn erst recht nicht sein dürfte. Denn Kohn ging es nie um Aussöhnung als Prinzip, sondern um Verstehen, Verändern, Verwirklichen. Kohn war einer der prägnantesten, streitbarsten, versiertesten und oft kontroversen Polit- und Wirtschaftsmagnate der Schweiz und der jüdischen Schweiz. Er hat die Energiepolitik wie kein anderer geprägt, war ein unbequemer eigenwilliger Protagonist, der mit Charme und Härte, mit allen Mitteln der Diplomatie und bisweilen der Intrige Positionen, Themen, Entscheide als Manager, Politiker, FDP-Parteimitglied oder bei seinen zivilgesellschaftlichen Engagements durchgesetzt hat. Er war ein brillanter Analytiker, ein strategischer und lösungsorientierter, profilierter Denker des Ausgleichs, aber kaum des Opportunismus. Er war im guten Sinne durchtrieben, wenn es um Verhandlungen oder darum ging, Dossiers durchzusetzen. Wie wenige andere beherrschte er alle Register der politischen Agitation, die zielführend und – durchaus auch sich selbst verpflichtet – den Fortschritt einer Gesellschaft im Blick hatte. Kohn war kein Machiavelli. Er war keiner, der mit Menschenverachtung, sondern mit Blick auf die Menschen zuging. Der Ingenieur war ein Homo Faber - mit Empathie und einem hohen Sensorium für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Kohn wusste als Sohn ostjüdischer Einwanderer immer, woher er kam. Ein Netzwerker, der synoptisch Bahnen verband, die ohne ihn vielleicht nie entstanden wären. Ein Interessenvertreter, der Karten mitunter erst in der zweiten oder dritten Runde auf den Tisch legen mochte, um im richtigen Moment mit Charme und Humor zu offenbaren, dass da einer sitzt, der spielt und spielen möchte. Er spielte nicht mit den Kontrahenten, aber mit den Dingen. Und er konnte mit Freude auf die Steilvorlagen und harten Gegenpositionen eintreten. Seine bestimmende und forsche Art durchbrach, wer auf Augenhöhe entgegenhielt, parierte, den übernächsten Zug noch nicht erkennen und allenfalls erahnen liess, dass Kohn durchschaut aber nicht besiegt war. Und wenn er es doch einmal sein sollte, konnte er die Niederlage akzeptieren. Da geschah was, da etablierte sich ein Spannungsfeld, das Menschen und Themen nach vorne katapultierte und zugleich Nähe schaffte. Kohns Charisma positionierte ihn an die Spitze von Unternehmen und Organisationen. Kantig wie er war, nutzte er die Positionen als Mittler zwischen Fronten hin zum Fortschritt der Gesellschaft, als liberaler Verfechter von Israels Aufschwung und der jüdischen Emanzipation ebenso wie als Verfechter der Emanzipation der Schweiz und der offenen Gesellschaft schlechthin. Kohn förderte und forderte die FDP, die Eidgenössische Technische Hochschule, Wirtschaftsorganisationen, Behörden, Bundes- und eidgenössische Räte, Parlamente, und er überschritt Grenzen, verstand sich nie als Parteisoldat in der Politik oder anderswo. Er diente sich an, um seine Anliegen durchzusetzen. Kohn sass in nationalen und jüdischen Organisationen, beriet noch bis in hohe Alter Firmen und Verwaltungen, engagierte sich bis in die letzten Tage für interkulturellen Dialog und solchen zwischen Religionsgemeinschaften, sorgte sich vehement um die innerjüdische Befindlichkeit einer Gesellschaft, der nach seiner Auffassung national und international qualifizierte «Leadership» fehlte. All dies ging Kohn nicht salopp über die Lippen. Zu Gesprächen kam er bestens dokumentiert und vorbereitet mit Unterlagen, Zeitungsartikeln, Analysen und Korrespondenzen, mit Informationen aus vorrangig getätigten Telefonaten und Abklärungen. Er war kein Behaupter und Worthülsenlieferant. Was er sagte, war verbindlich und selbst dort vorgedacht, wo das Argument Provokation oder Spiel sein sollte. Handelte es sich um jüdische Inhalte, hatte er Inhalte stets breit abgestützt vorbereitet bis tief hinein in die Lebensart orthodoxer jüdischen Gemeinschaften, die er als Liberaler und Säkularer ablehnte. Zugleich setzte er sich dafür ein, dass die Orthodoxen einen geschützten Lebensraum erhielten. Bei alledem wusste Kohn sich selbst genau zu verorten. Nach Jahrzehnten des gesellschaftlichen Lebens, der Anerkennung und des Engagements akzeptierte er schmerzfrei und mit einem verschmitztem, ihm gerade in solchen Situationen so eigenen Lächeln, dass die Gesellschaft ihn nicht mehr hochhielt wie früher.

Kohn war loyal und solidarisch. Der Einzelgänger blieb es. Nicht aus Arroganz, sondern aus Redlichkeit und in Bescheidenheit. Er nahm aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Kaum eine Delegiertenversammlung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, die er nicht noch bis ins hohe Alter besuchte. Ebenso beim Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine, bei Vorträgen, Anlässen, Diskussions- oder kulturellen Abenden war er präsent oder in Vorstandsämtern jüdischer Organisation. Auch in Theater, Oper, an der Universität und an vielen weiteren Anlässen war er präsent. Kohn war da. Als Beobachter reflektierte und verhandelte er Entwicklungen wie ein Chronist. Kohn war ein Kohen und als solcher im Priesterorden der jüdischen Gemeinschaft. Diese Position nahm er ernst und war an Feiertagen präsent zum wohl für ihn eher symbolischen Priestersegen, den er als Akt der Verpflichtung einer Gemeinschaft gegenüber verstand, die durch Tradition Kultur und das Überleben gegen den Antisemitismus schaffte. So war Kohn verbindlich und über Eigennutz hinaus eine Persönlichkeit, die für andere einstand, als sie selbst längst nicht mehr die Bedeutung hatten, die Kohn einst brillant benutzte. Denn Kohn wusste als Mensch und Kohen: die privilegierte Situation, verschont geblieben zu sein, einer Gesellschaft dienen und die schützende Hand über sie legen zu können, gerade noch, wenn keine eigenen Nachkommen da waren, keine Flucht- und Migrationserfahrung selbst machen zu müssen ist reines Schicksal und nicht selbst verdient. All dies lebte und wusste Kohn. Und so war es für den Trauerzug auf dem Oberen Friesenberg eine Überraschung, dass da bei der Abdankung die Vertreter von Stadt, Kanton, Eidgenossenschaft, die Repräsentanten von Wirtschaft oder gar anderer jüdischer Gemeinschaften und viele mehr fehlten. Kohn hätte es nicht erstaunt, auch wenn er sich über den einen oder die andere gefreut hätte. Denn er hat die Beziehungen auch immer als eine Art Freundschaft verstanden, sobald er die Menschen nach einer gewissen Zeit reflexartig zu duzen begann. Ohne Nostalgie.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann