das jüdische logbuch 08. Apr 2022

Genfer Konventionen nach Den Haag!

Hamburg, April 2021. Die Fratze des Krieges schockiert die Welt. Massaker, Kriegsverbrechen, Elend. Der reale Krieg ist blutig, schmutzig, barbarisch. Gestern Donnerstag startete das EuropaCamp in Hamburg zum Thema «Facing new Realities». Vier Tage verhandelt eine junge Generation Gegenwart und Zukunft Europas – nun auf einmal im Zeichen des Kriegs, Wahlen in Frankreich mit einer gefährlichen rechtsextremen Rechten, dem Sieg des rechts-nationalistischen Viktor Orbán, verheerenden Kriegen in Somalia, Jemen und drohenden humanitären Krisen in Afrika. Diese junge Generation wird auch darüber nachdenken müssen, wieso Russlands barbarische Kriegsführung in Tschetschenien, Georgien, Syrien die Regierungen der sogenannten freien Welt nicht früher aufgerüttelt und zu Sanktionen bewegt hatte. Denn alle hatten sie privilegierte Geheimdienstinformationen, alle wussten sie, welchen Pakt sie mit den Autokraten weltweit eingehen – mit wem sie Handel ohne Bedingungen betrieben und Waffen lieferten. Auch der Schweizer Bundesrat, der nun im Angesicht der Verbrechen zuerst die Fakten klären und neutral bleiben möchte. Die unbeteiligten Zuschauer waren immer beteiligt. Da wollten sie die Fakten nicht vorab geklärt haben. Der Schweizer Bundesrat des Wegschauens, Negierens und Verklärens hat aus der Geschichte nichts gelernt und möchte dies auch nicht. Bundespräsident Cassis «will einen kühlen Kopf bewahren» und «Fakten checken». Mit demselben kühlen Kopf ist die Schweiz über Jahrzehnte Komplizin, Bankerin, diplomatische Drehscheibe für Unrechtsstaaten gewesen. Die Moral im Mund mit den falschen Partnern an der Hand geht nicht zusammen mit dem Depositarstaat des humanitären Völkerrechts. Daher gehören die Genfer Konventionen ab sofort nach Den Haag – dorthin, wo Gerichtsbarkeit die Verbrechen aufklären und strafrechtlich verfolgen wird. Dorthin, wo nicht relativiert oder geschwiegen, sondern gehandelt wird. Dorthin, wo Faschisten vor Gericht gestellt werden. Faschisten wie Putin und sein Gefolge. Zu diesem Gefolge gehören auch jene, die Diener seiner Gnaden sind. Am Mittwoch hat nun Grossbritannien den Oligarchen Mosche Kantor auf die Liste der Sanktionen gesetzt. Der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses schweigt seit Ausbruch des Krieges, obwohl er davor PR-würdige Auftritte mit westlichen Staatsoberhäuptern nicht scheute. Auch nach den Bildern der Massaker von Butscha hat der Präsident von Europas organisierten Jüdinnen und Juden das Wort nicht ergriffen, obwohl er doch sonst als grosser Mahner und Verfechter für die Erinnerung an die Schoah aufgetreten ist. Seit tachles mit Kriegsausbruch die Frage «Wo ist Mosche Kantor?» (vgl. tachles 09/2022) gestellt hat, haben sich aus fünf europäischen Ländern jüdische Repräsentanten bei der Redaktion gemeldet, denen die Geiselhaft von Europas Juden schon seit Jahren ein Dorn im Auge ist. Sie schilderten, weshalb ein Wechsel an der Spitze des Verbands bisher kaum möglich war. Sie erklärten Mechanismen und die Art der Führung des Verbands, gaben Einblicke in Entscheidung- und Finanzierungswege, kontextuierten das Schweigen des Präsidenten und benannten Mitverantwortliche für diese Situation ebenso wie jene, die im Umfeld Kantors auf vielfältige Art und Weise profitierten. Mit der Sanktionierung von Mosche Kantor wird ein Rücktritt allerdings unausweichlich und das Wegschauen der Mitgliederverbände – auch der Schweiz – unmöglich. Denn ansonsten wird jegliche berechtigte Forderung jüdischer Gemeinschaften nach Wahrnehmung von Verantwortung im Umgang mit Antisemitismus, Rassismus, ethischem Verhalten ad absurdum geführt – und auf das trostlose moralische und politische Niveau des Schweizer Bundesrats sinken.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann