das jüdische logbuch 18. Feb 2022

Die nächste «Judendebatte»

Berlin, Februar 2022. Die nächste «Judendebatte», die Juden nicht gesucht haben. Tamedia kickt den Journalisten Kevin Brühlmann (vgl. Seite 6) nach seinem Artikel über die FDP-Politikerin Sonja Rueff-Frenkel raus. Der Journalist, die Redaktion hatten sich längst für die stereotype und vielleicht sogar antisemitische Berichterstattung entschuldigt. Doch ein Bauernopfer musste her. Statt gegen die verantwortlichen Redakteure, die den Text ins Blatt gerückt haben, geht der Konzern gegen einen jungen Journalisten mit einer Unverhältnismässigkeit vor, die erstaunt. Gelten Eingeständnis, Entschuldigung, einvernehmliche Aussprache mit der betroffenen Politikerin nichts mehr? Was ist nun mit allen anderen Journalisten, die bei Tamedia für Artikel verantwortlich zeichnen, die kritische Recherchen, redlichen Journalismus betreiben? Was ist mit jenen, die vielleicht sogar Zürichs Eliten, die Wirtschaftseliten, die Weggefährten des Verlegers thematisieren, vielleicht sogar über sie recherchieren? Sind Zustände wie in Ungarn, Russland nun also auch in der Schweiz möglich? Nein. Es geht nicht um Moral. Es geht um die Urfragen der demokratischen Ordnung, der Gewaltentrennung, der Gouvernance. Eine Gesellschaft mit mangelndem Geschichtsbewusstsein, ohne klare politische Haltung zur Geschichte treibt dieser Art von unnötigen Debatten vor sich her. Während Zürichs Stadtregierung in ihrer Stadtmitte einen Nazi-Kollaborateur hofiert, lässt der Bundesrat Nazi-Symbole zu (tachles berichtete) und lügt letztlich Juden ins Gesicht. So hat etwa der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis zum internationalen Holocaust-Gedenktag ein Foto von einem Treffen mit dem Holocaust-Überlebenden Fishel Rabinowicz gepostet. Medienwirksam wird das Treffen über alle Kanäle verbreitet und Cassis verkündet selbstgerecht: «Wir haben die Verantwortung, gegen Antisemitismus, Rassismus, Hass und Gewalt und Totalitarismus einzustehen.» Und weiter: «Wenn wir uns an den Holocaust erinnern, tun wir dies für die Millionen von Menschen, die ihn nicht überlebt haben. Wir tun es aber auch für die Hinterbliebenen.» Hat der Bundespräsident dem ehemaligen KZ-Häftling mit der Nummer 19037 ins Gesicht gesagt, dass er eine Woche später gegen ein Verbot von Nazi-Symbolen entscheiden wird? Natürlich nicht. In dieser Schweiz ist Kevin Brühlmann aufgewachsen und sozialisiert worden von einer Generation und einem politischen Umfeld, die diesen Spagat ohne Augenzwinkern vollziehen können. Ein Spagat ohne Gewissen, Haltung, Redlichkeit. Die Schweiz von Bundespräsident Ignazio Cassis, Verleger Pietro Supino, Stadtpräsidentin Corine Mauch.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann