Das Jüdische Logbuch 19. Okt 2018

Laizismus oder Konkordat

Strassburg, Oktober 2018. Gibt es jüdische Orte, die nicht Ghetto, Judendistrikt oder allenfalls Schtetl waren, sondern in Freiheit gewachsene Zentren jüdischen Lebens? Im elsässischen Strassburg findet sich eines der gewichtigsten jüdischen Zentren Europas. Auf 340 000 Einwohner kommen rund 20 000 Juden. Mitten in der sogenannten Neustadt finden sich rund 18 Synagogen, Lernhäuser, jüdische Schulen, Jeschiwot (Talmudschulen), ein jüdisches Krankenhaus und Altersheim, unzählige koschere Geschäfte und Restaurants, Bäckereien und zwei grosse Metzgereien sowie Supermärkte. Das jüdische Leben spielt sich nicht hinter hohen Mauern, Sicherheitsschleusen oder im Verborgenen, sondern im öffentlichen Raum, auf den Strassen und in dem von Juden, Christen, Muslimen und anderen Bevölkerungsgruppen gemeinsam bewohnten Quartier ab. Wuchtig steht am Rande des jüdischen Quartiers das Gemeindezentrum mit der grossen Synagoge «de la Paix» und ihren rund fünf angegliederten Synagogen mit unterschiedlichen Riten von sephardisch bis osteuropäisch. Bereits im Mittelalter beherbergte die Stadt eine grosse jüdische Gemeinde. Ab 1389 bis 1789 war Juden dann allerdings das Betreten der Stadt verboten. Sie siedelten sich in den Umlandgemeinden an, was im Elsass über lange Zeit zu einem florierenden jüdischen Leben in Dörfern und kleinen Städten führte. Nach der napoleonischen Zeit blühte die jüdische Gemeinde wieder auf. Und dann das jähe Ende mit der Besatzung durch Nazideutschland 1940 bis 1944, als ein Grossteil der Gemeinde deportiert und ermordet wurde. Nach dem Krieg schaffte die jüdische Gemeinde einen beispiellosen Aufstieg und avancierte zum jüdischen Zentrum des Lernens. Die Ultraorthodoxie hat in der Stadt kaum Fuss gefasst. Es findet sich ein vielfältiges, pluralistisches jüdisches Leben bis hin ins weit herum sichtbare religiöse Judentum, das die Anbindung an weltliches Leben verinnerlicht hat. Ein Konkordat regelt in Elsass-Lothringen die Beziehungen zwischen dem Staat und den beiden grossen christlichen Konfessionen sowie der jüdischen Gemeinde. Die später zugewanderten Muslime fallen nicht darunter.

1905 führte Frankreich die strikte laizistische Trennung von Staat und Religion ein und wurde 1958 in die Verfassung der fünften Republik aufgenommen. Die Departemente in Elsass-Lothringen sind davon ausgenommen, was etwa zur Folge hat, dass die Rabbiner der Gemeinden Staatsbeamte sind. Mit dem Konkordat und dem Laizismus offeriert Frankreich zwei Modelle im Verhältnis zur Religion. Im Laizismus bilden Glaubensgemeinschaften privatrechtliche Vereine und damit keine Körperschaften des öffentlichen Rechts. Der Staat gestattet keinen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, er verbietet das Tragen religiöser Symbole in den Schulen, er zieht für die Religionsgemeinschaften nicht ein. Das Konkordat delegiert Religion nicht in die Privatheit ab, sondern weist ihr öffentlichen Raum und Privilegien zu, die mit dem Staat ausgehandelt werden. Auch an diesem Septemberfreitag herrscht reges Treiben auf den Strassen. Frauen und Männer kaufen ein für Schabbat. Vor einem Lernhaus versammeln sich Dutzende von Studenten. Ein grosser Gelehrter einer berühmten israelischen Jeschiwa besucht die elsässische Hauptstadt und beginnt den Freitagvormittag mit einem Schiur. Währenddessen füllen sich Geschäfte, Restaurants. Über Mittag strömen Hunderte von Kindern und Jugendlichen aus den jüdischen Schulen nach Hause. In Gesprächen präsentiert sich eine Selbstverständlichkeit und Normalität des Jüdischen, die sich in anderen Städten Europas selten so entfaltet. Alltags- und Fragen des Zusammenlebens werden diskutiert. Antisemitismus kennen die jüdischen Bewohner von Strassburg aus eigener Erfahrung. Die Stadt erfährt Zuwanderung von jüdischen Familien gerade aus Paris. Die Auswanderung nach Israel beschränkt sich eher auf Familien, die mit der Alija eine religiöse Erfüllung verbinden. Am späten Freitagnachmittag füllen sich die Strassen wieder, Hunderte von Juden strömen zu ihren Synagogen. Weshalb gerade Strassburg ein solches jüdisches Leben entfaltet hat, sieht ein Gemeindeverantwortlicher gerade auch im Konkordat begründet, das nach seiner Auffassung in der Stadt einen religiösen Frieden und Austausch auf Augenhöhe mit Politik und Institutionen ermöglicht. Der Schabbat hat längst begonnen. Aus Synagogen und Betlokalen klingen Gesänge. Während dessen ziehen vor allem junge jüdische Frauen mit ihren Kindern in die verschiedenen Richtungen und treffen Väter und Ehemänner vor den Synagogen, von wo sie sich zum Kabbalat Schabbat begeben. Der Gemeindeverantwortliche schaut dem Treiben vor dem grossen Gemeindezentrum zu, das sich Zuschauern wie dem Treiben bei einem Bienenhaus entfaltet. Mensch gehen ein und aus, der Verantwortliche meint stolz, dass in der kommenden Woche das 60. Jubiläum des Gemeindezentrums gefeiert wird und deshalb die französischen Fahnen gehisst werden: «Das ist auch ein Ereignis für die Stadt.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann