Das Richard-Wagner-Museum Luzern wagt sich in einer Sonderausstellung zu Wagner und dem Judentum sehr differenziert an ein immer noch heikles Thema heran – mit spannenden Einblicken.
Kein Komponist des 19. Jahrhunderts wird heute noch dermassen unterschiedlich beurteilt wie Richard Wagner (1813–1883). Seine Umstrittenheit geht weniger auf sein musikalisches Schaffen als auf die antisemitische Streitschrift «Das Judenthum in der Musik» und dessen verheerende Wirkung zurück. Die erste, 1850 in Zürich entstandene Textfassung liess Wagner noch im selben Jahr in Leipzig unter dem Pseudonym K. Freigedank in der von Robert Schumann begründeten «Neuen Zeitschrift für Musik» erscheinen. Während seines sechsjährigen Aufenthalts auf dem Landsitz Tribschen bei Luzern erweiterte er dieses Pamphlet, indem er dessen Reaktionen kommentierte, um es als Broschüre 1869 wiederum in Leipzig zu veröffentlichen.
Obwohl er damals jüdischen Kulturschaffenden künstlerische Kreativität absprach und über Mendelssohns Musik schrieb, sie sei nicht imstande, «auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen», hielt er in den «Bayreuther Blättern» 1879 die «Hebriden-Ouvertüre» für eines «der schönsten Musikwerke, die wir besitzen».
Eine noch widersprüchlichere Meinung vertrat Wagner gegenüber dem anfänglich als Idol verehrten, in der Publikation nicht namentlich genannten Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer. Von peinlicher Unterwürfigkeit zeugt sein in Paris am 15. Februar 1840 geschriebener Dankesbrief: «Ich sehe kommen, dass ich Sie von Äonen zu Äonen mit Dankesstammeln verfolgen werde. Die Versicherung kann ich Ihnen geben, dass ich auch in der Hölle noch Dank stammeln werde. Ihr mit Herz und Blut ewig verpflichteter Untertan Richard Wagner.»
Obwohl sich Meyerbeer in Paris vielerorts für Wagner einsetzte und ihn auch finanziell unterstützte, wurde er nach Wagners Scheitern in der französischen Metropole zur Zielscheibe des Spottes. Wagner warf ihm die «Verwirrung alles musikalischen Geschmackes» sowie das Verbreiten von Langeweile und Trivialitäten vor.
Kontinuität der Gegensätze
Wie in Wagners Schrift «Das Judenthum in der Musik» und in seinen späteren Äusserungen wechseln die Meinungen über den extrem polarisierenden Komponisten auch in den Stimmen jüdischer Musikerinnen und Musiker ohne Unterbruch ab.
In den vier Räumen des Obergeschosses des Richard-Wagner-Museums Luzern versammelt die von Franziska Gallusser in Zusammenarbeit mit den Richard-Wagner-Stätten Graupa sorgfältig gestaltete, mit Audio- und Videoeinspielungen angereicherte Sonderausstellung an die 30 gegensätzliche Perspektiven, von des Komponisten Zeitgenossen bis zu Leonard Bernstein, Georg Solti und Daniel Barenboim.
Sofern sie seinen Zwecken dienen konnten, lehnte Wagner trotz seines Judenhasses all die vielen jüdischen Interpreten und Bearbeiter seiner Werke nicht ab. Als sich der in Charkiw geborene Pianist Joseph Rubinstein (1847–1884) im Jahr 1872 an Wagner wandte, begann er seinen Brief mit den Worten: «Ich bin ein Jude. Hiermit ist für Sie Alles gesagt.» Der ukrainische Musiker übertrug die Opern «Parsifal» und «Tannhäuser» sowie das in Tribschen komponierte «Siegfried-Idyll» für Klavier und wurde in Bayreuth zu Wagners eigentlichem Hauspianisten. Von psychischen Problemen belastet, deren Ursache Wagners Antisemitismus war, nahm sich Rubinstein ein Jahr nach Wagners Tod am Ufer des Vierwaldstättersees das Leben.
Heinrich Heines Einfluss
In politisch-revolutionärer Hinsicht übte Heinrich Heine, den Wagner zur Jahreswende 1839/40 in Paris kennenlernte, grossen Einfluss auf seinen ebenfalls literarisch tätigen Landsmann aus. Der Titel «Götterdämmerung» geht auf ein schon 1823 entstandenes Gedicht von Heine zurück und die Handlung der Oper «Der fliegende Holländer» stützt sich auf Heines «Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski». Zu Wagners bekanntesten Liedern für Gesang und Klavier zählt die Heine-Vertonung «Die beiden Grenadiere» von 1840. Als Sohn eines Oberrabbiners entwickelte der Dirigent Hermann Levi (1839–1900) eine freundschaftliche Beziehung zu Wagner, dessen Antisemitismus ihn nicht hinderte, 1882 die Uraufführung der als «Bühnenweihfestspiel» bezeichneten Oper «Parsifal» in Bayreuth zu leiten. Seinem Vater schrieb Levi in jenem Jahr über Wagner: «Er ist der beste und edelste Mensch. Dass ihn die Mitwelt missversteht und verleumdet, ist natürlich (...). Aber die Nachwelt wird einst erkennen, dass W. ein ebenso grosser Mensch als Künstler war. (...) Auch sein Kampf gegen das, was er im ‹Judenthum in der Musik› und in der modernen Literatur nennt, entspringt den edelsten Motiven, und dass er kein kleinliches Risches hat, beweist sein Verhalten zu mir, zu Joseph Rubinstein und seine frühere intime Beziehung zu Tausig.» Die Vorgeschichte der Uraufführung sollte jedoch nicht übersehen werden. Da Wagner die Oper «Parsifal» für sein «allerchristlichstes Werk» hielt, missfiel ihm, dass es von einem Juden dirigiert werden sollte. Er beabsichtigte deshalb, Levi taufen zu lassen, was dieser mit Rücksicht auf seinen Vater jedoch ablehnte.
Dass Levi Wagner von «Risches» («Judenhass») freispricht, mag gleichermassen erstaunen wie Gustav Mahlers Begeisterung und leidenschaftlicher Einsatz für Wagners Bühnenwerke. Für die Einstudierung der Opern «Rheingold» und «Walküre» in Budapest verlangte er 80 Proben. Der Musikerin Nathalie Bauer-Lechner gestand er: «Wenn ich noch so niederträchtiger Stimmung bin und denke an Wagner, so werde ich gut gelaunt.»
Für Arnold Schönberg war Wagner «eine ewige Erscheinung, ganz unabhängig davon, wie sich die Modeströmungen zu ihm stellen.» Hoch geschätzt wurde Wagner auch von Erich Wolfgang Korngold und von Kurt Weill. Selbst ein passionierter Geigenspieler, fand Albert Einstein bezüglich Wagner im Unterschied zu diesen beiden Komponisten: «Ausserdem ist für mich seine musikalische Persönlichkeit unbeschreiblich anstössig, so dass ich ihn zumeist nur mit Abscheu anhören kann.»
Wagner in Israel
Wie Theodor Herzl bekannte, litt er, während er in Paris an der Publikation «Der Judenstaat» arbeitete, an schweren Depressionen. Davon erholte er sich an Aufführungen von Opern Wagners, die er sich als einzige Entspannung gönnte. Zur Eröffnung des zweiten Zionistenkongresses in Basel (1898) liess Herzl die Ouvertüre zu «Tannhäuser» spielen. Seine Hoffnung, dass im Staat Israel dereinst Wagners Werke gespielt würden, erfüllte sich erst 1981, als das Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta mehrere Auszüge aus «Tristan und Isolde» spielte. Die erste Richard-Wagner-Gesellschaft wurde in Israel 2017 gegründet. Daniel Barenboim bemühte sich mit besonderem Eifer um die in vielen Kreisen immer noch umstrittene Verbreitung von Wagners Schaffen. Leonard Bernstein, der sich besondere Verdienste um wegweisende Mahler-Aufführungen in den Nachkriegsjahren erwarb, trat auch als erfolgreicher Wagner-Interpret hervor, beschrieb den deutschen Komponisten jedoch treffend als ein «erstrangiges Genie mit drittklassigem Charakter.» In einem Video ist Bernstein vor dem Wohnhaus von Sigmund Freud in Wien zu sehen, wo er sein «Wagner-Problem» zu lösen wünscht. Worin es besteht, fasst Bernstein in einem Satz zusammen: «Es gibt Augenblicke, in denen ich wütend die Partitur zuklappen möchte und mich sagen höre: Richard Wagner, ich hasse dich, aber ich hasse dich auf meinen Knien.»
Jüdische Gäste in Tribschen
Nebst Augusta Holmès, Franz Liszt, Friedrich Nietzsche und Gottfried Semper reihen sich auch hervorragende jüdische Künstlerinnen und Künstler in die lange Liste der Gäste in Wagners Landhaus in Tribschen ein. An sie erinnern in der Ausstellung der bereits erwähnte ukrainische Pianist Joseph Rubinstein und die französische Schriftstellerin, Malerin, Bildhauerin und Musikkritikerin Judith Gauthier, die mit dem jüdischen Journalisten und Dichter Catulle Mendès verheiratet war.
Natürlich fehlen unter den zahlreichen jüdischen Wagner-Interpreten weder der Tenor Heinrich Sontheim noch die Sopranistin Lili Lehmann-Löw, die von Richard Strauss in ihrer Rolle als Brünhilde als «alte Judengrossmutter ohne eine schauspielerische Begabung und ohne eine Spur von Gefühl» diffamiert wurde.
Antisemitische Figuren
Informieren mehrere Zeittafeln über Wagners Leben, die Emanzipierung der Juden und die Entwicklung des Judenhasses, so konzentriert sich eine weitere auf die Darstellung antisemitischer Figuren in Wagners Bühnenwerken. Beckmesser in der Oper «Die Meistersinger von Nürnberg» gilt als Karikatur des gegen Wagner polemisierenden Musikkritikers Eduard Hanslick. Seine unglücklichen Lieder wurden und werden immer noch als Parodie auf den Synagogalgesang verstanden, den Wagner in der Schmähschrift «Das Judenthum in der Musik» verachtungsvoll als «sinn- und geistverwirrendes Gegurgel, Gejodel und Geplapper» charakterisiert hatte.
Aktuelle Interviews
Im Kinoraum äussern sich zehn jüdische Persönlichkeiten in einer Dokumentation mit dem Titel «Jüdische Perspektiven heute» in Interviews über ihre Beziehung zu Wagners Musik und Antisemitismus. Nebst Eva Engelmann (Chefärztin eines Spitals in Jerusalem), Josua Sternbuch (Spezialarzt für Augenheilkunde und -chirurgie), Daniel Grossmann (Gründer und Dirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich), Ralph Friedländer (Präsident des SIG), Avery Gosfield (Leiterin des Vereins Spielen gegen Auschwitz) und der Komponistin Sarah Nemtsov spricht auch ihr Gatte, der 1963 in Sibirien geborene Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov (Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt, Weimar). Wie vor ihm schon historische Persönlichkeiten und aktuelle Befragte trennt er die verwerfliche Ideologie Wagners von dessen musikgeschichtlich bedeutsamer Musik radikal.
Auf einem Tisch ausgebreitete «Lese-Tipps» runden die leider ohne Katalog auskommende Sonderausstellung ab.
«Tabu Wagner? Jüdische Perspektiven», Richard-Wagner-Museum Luzern, bis November 2025.