ROSCH HASCHANA 5786 19. Sep 2025

Rosch Haschana im Zeichen von Krieg

Für viele Israeli wird Rosch Haschana in diesem Jahr Armneedienst bedeuten.

Das letzte Jahr war wahrlich kein süsses, das nächste könnte noch bitterer werden, jedoch kann und muss die Hoffnung stärker sein als die faktische Realität.

Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, ist ein Fest des Neubeginns. Ein Moment, innezuhalten, auf das Vergangene zurückzublicken und die Hoffnung auf ein besseres Jahr zu nähren. Doch in diesem Jahr fällt es schwer, die Töne des Schofars nur als Symbol der Erneuerung und der inneren Umkehr zu hören. Sie klingen wie ein Weckruf in einer Welt, in der sich für Juden vieles verändert hat – vielleicht nachhaltiger, als wir uns eingestehen wollen. Der Krieg in Gaza, die Bilder von schrecklicher Zerstörung und furchtbarem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung, die politischen Debatten in aller Schärfe und die Welle des Antisemitismus, die fast überall auf der Welt neue Höhen erreicht, haben Spuren hinterlassen, die nicht mit dem Übergang in ein neues Jahr verschwinden werden.

Für Juden in Israel wie in der Diaspora ist der Alltag seit Oktober 2023 ein anderer geworden. Die andauernde Gewalt in Gaza, die Angriffe auf Israel, die Sorge um verschleppte Geiseln und um das Leben von Soldaten haben die israelische Gesellschaft in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt. Viele Familien verbringen dieses Neujahrsfest mit einem leeren Stuhl am Tisch, mit der Abwesenheit von Söhnen, Töchtern, Brüdern oder Schwestern, die an der Front stehen oder noch nicht heimgekehrt sind. Jeder Festtag, der eigentlich von Wärme, Liedern und süssem Honig erfüllt sein sollte, trägt nun eine Schwere in sich, die nicht einfach abzuschütteln ist.

Ein neuer, offener und aggressiver Antisemitismus
Doch auch weit entfernt von Tel Aviv oder Jerusalem hat sich das Leben verändert. In Paris, London, Berlin, Zürich, New York oder Los Angeles spüren jüdische Gemeinden, dass die Atmosphäre kälter geworden ist. Der Krieg hat nicht nur politische Debatten entfacht, sondern uralte Ressentiments freigelegt. Synagogen werden von immer mehr Polizisten bewacht, Kinder tragen ihre Kippa nur noch unter einer Mütze, jüdische Studenten ziehen sich von Universitäten zurück, weil sie dort Hassparolen oder soziale Ausgrenzung erleben. Was lange Zeit als «Nie wieder» galt, scheint zu bröckeln – die Erschütterung des jüdischen Lebens ist manifest.

Viele Diaspora-Juden haben das Gefühl, dass sie kollektiv in Haftung genommen werden. Als ob das, was in Gaza geschieht, ein Beweis für eine pauschale Schuld sei. Diese Gleichsetzung von «Jude» und «Israel» ist nicht neu, aber sie hat eine Wucht erreicht, die Menschen in Angst versetzt. Es ist ein Antisemitismus, der sich nicht mehr nur hinter dem Mantel der «Israel-Kritik» verbirgt, sondern offen und aggressiv hervortritt. Und damit wird jüdisches Leben weltweit auf eine Weise verändert, die das kommende Jahr prägen wird: Es verlangt neue Wachsamkeit, neue Formen der Selbstbehauptung und leider auch neue Schutzmechanismen.

Neue jüdische Selbstbehauptung
Rosch Haschana ruft dazu auf, nicht nur das eigene Leben zu prüfen, sondern auch die Welt, in der man lebt. Für Juden stellt sich heute die Frage: Wie lässt sich ein jüdisches Leben voller Freude und Spiritualität aufrechterhalten, wenn man sich zugleich ständig verteidigen muss? Die Antwort liegt vielleicht in einer paradoxen Mischung aus Rückzug und Selbstbehauptung. Rückzug insofern, als viele Gemeinden sich enger zusammenschliessen, ihre inneren Bindungen stärken, jüdische Bildung und Kultur neu betonen. Selbstbehauptung, weil Juden heute stärker gezwungen sind, ihre Stimme zu erheben, sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen und dem Hass etwas entgegenzusetzen – sei es durch öffentliche Präsenz, durch Dialog oder durch politische Arbeit.

Es wäre jedoch zu einfach, diese Situation nur als Bedrohung zu beschreiben. So schmerzhaft die Entwicklungen sind, sie eröffnen auch eine neue Ernsthaftigkeit im jüdischen Leben. Viele junge Juden, die sich zuvor kaum für ihre Wurzeln interessierten, suchen nun bewusster die Gemeinschaft auf. Sie begreifen, dass jüdische Identität nicht selbstverständlich ist, sondern verteidigt und gelebt werden muss. In einer paradoxen Weise stärkt der Druck von aussen den inneren Zusammenhalt, wie so oft in der jüdischen Geschichte. Was als Abwehr beginnt, kann zu einer neuen Quelle von Stolz und Resilienz werden.

Und doch bleibt die Frage offen, welchen Preis das haben wird. Wird jüdisches Leben sich in eine Festung verwandeln, immer mehr von Sicherheit und Abgrenzung bestimmt? Oder gelingt es, die Offenheit zu bewahren, die Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihre Umgebung eingebracht haben? Diese Spannung wird das kommende Jahr prägen – und vermutlich viele weitere.

Rosch Haschana erinnert daran, dass die Zukunft nicht festgeschrieben ist. Juden beten in diesen Tagen nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Welt. Sie bitten um Frieden, um Gerechtigkeit, um Heilung der Wunden, die Nationen, Religionen und Menschen einander zufügen. Die Sehnsucht nach einem guten und süssen Jahr ist nicht naiv, sondern fast schon ein Akt des Widerstands in diesen Zeiten. Gerade in einer Zeit, in der der Blick in die Nachrichten oft nur Bitterkeit weckt, bleibt die Süsse des Honigs ein Symbol dafür, dass Hoffnung nicht aufgegeben werden kann.

Vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung dieses Neujahrsfestes: nicht zu vergessen, dass selbst im Schatten von Krieg und Hass eine andere Zukunft denkbar bleibt. Sogar oder gerade im Nahen Osten. Und dass die jüdische Geschichte – voller Brüche, Verfolgungen, Exile – immer auch eine Geschichte der Rückkehr, der Neuerfindung und der unerschütterlichen Lebensfreude ist. Antisemitismus mag das Leben erschweren, er wird es verändern. Aber er wird es nicht zerstören.

Wenn der Schofar ertönt, hallt er an diesem Rosch Haschana durch eine Welt voller Konflikte. Doch er trägt zugleich die Botschaft, dass jeder Mensch, jede Gemeinschaft, jedes Volk aufgerufen ist, nicht nur zu überleben, sondern menschlicher zu werden. Für sich und für alle anderen.

Richard C. Schneider