nahost 25. Jul 2025

Hungert Israels Regierung Gaza aus?

Kinder ringen im Gaza-streifen um Nahrung, hier eine Fotografie vom vergangenen Dienstag.

In den letzten Tagen ist die internationale Kritik an Israels Vorgehen in Gaza massiv gestiegen, die Israelis wiederum beschweren sich über Doppelstandards – eine kritische Einordnung zu einem Krieg mit Informationssperren.

Aus aller Welt ist der Vorwurf der Unverhältnismässigkeit gegen Israel zu hören. Die Israelis wiederum beschweren sich über Doppelstandards. Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fake ist nahezu unmöglich – soweit das Bedürfnis zu unterscheiden überhaupt noch besteht. Eine kritische Einordnung der Informationen sollte aber zumindest versucht werden.

Quellen und Statistik
Keine der Quellen gilt als vollkommen zuverlässig. Keine Statistik, der nicht der Ruf vorausgeht, manipuliert oder gar gefälscht zu sein. Wer also Argumente sucht, um Israel zu entlasten, sucht am besten unter den Quellen und Zahlen, die aus Gaza kommen. Die glaubwürdigsten Beweise zum Massaker vom 7. Oktober sind die Bodycams der Angreifer. Wer Bilder von Gaza-Bewohnern sucht, die nicht wie Opfer von Mangelernährung aussehen, wird in den sozialen Netzwerken schnell fündig.

Wer die Vorwürfe gegen Israel verstärken will, kann im Gegenzug israelische Quellen heranziehen. Rechte Abgeordnete der Knesset und Minister bestätigen selbst den Anwälten am Internationalen Strafgerichtshof, dass Gaza «platt gemacht» oder «verbrannt werden muss». Mit der dann logisch klingenden Schlussfolgerung, dass «alle männlichen Bewohner Gazas beseitigt werden müssen». Sehr verbreitet sind inzwischen auch Aussagen wie: «Es wird kein Kriegsende geben. Schluss mit der Furcht vor Besatzung und Militärherrschaft.»

Anschuldigungen an die IDF
Unklar wird es jedoch bei der Anwendung von Grundbegriffen: Wann beginnt eine Hungersnot? Bei der Einschätzung gehen die Auffassungen auseinander. Zwar liefert die «Integrierte Klassifikation der Ernährungssicherheits-Phasen» eine präzise Skala zur Bewertung von Unterernährung und Hunger. Doch die dafür nötigen Kriterien stützen sich (siehe oben) auf fragwürdige Statistiken und nur bedingt vertrauenswürdige Quellen. Selbst internationale freiwillige Ärzte sind nicht immer so zuverlässig, wie von den Medien oft angenommen. So basierte die (später widerlegte) Anschuldigung, Israels Armee gehe mit Drohnen auf «Kinderjagd», auf Angaben von Medizinern.

Ein Beispiel für problematische Statistik: Viele Medien übernahmen ungeprüft die Zahl der Lastwagen (LKW), die zur Versorgung des Gazastreifens benötigt würden – rund 500 LKW täglich, 150 bis 300 davon für Nahrungsmittel. Zahlen lügen nicht – oder doch? Laut dem UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten, waren es im Jahr 2022 täglich 292 LKW – vor allem für Baustoffe. Nur rund 73 transportierten damals Nahrungsmittel. In diesem Zeitraum lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Gaza über der von Ägypten oder Jordanien. Trotzdem meldete das UN-Hilfswerk UNRWA im Mai 2024 einen «Rückgang der Transporte» um 70 Prozent. Diese Zahl fand sich bis Jahresende in offiziellen Berichten – erst im Dezember 2024 wurden sie korrigiert. Die meisten Medien reagierten nicht darauf.

Einfahrverbote für LKW werden von Nachrichtenagenturen weit häufiger aufgegriffen als z. B. Angaben über frühere Transportvolumen. Dabei sicherten diese in manchen Phasen die Versorgung Gazas wochenlang im Voraus. Gründe für solche LKW-Stopps können geplante Militäreinsätze oder Angriffe durch die Hamas sein.

Kritik an Versorgungslage
Auch die Schätzungen zur ausfallenden Eigenproduktion Gazas wirken fragwürdig. Laut Amnesty International deckte sie vor dem Krieg etwa 44 % des Lebensmittelbedarfs ab – vor allem durch Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst. Ein Totalausfall würde zweifellos eine Mangelversorgung verschärfen. Doch wichtiger für die Kalorienzufuhr sind Grundnahrungsmittel wie Getreide und Öl, diese kamen schon vor Kriegsbeginn fast vollständig über internationale Hilfsprogramme.

Die Zerschlagung internationaler Organisationen durch Israel bedeutete langfristig einen strategischen Fehler – vor dem Sicherheitsleute und Militärs aus Israel gewarnt hatten. Rechte Minister, die nie viel mit der UNO anfangen konnten, nutzten die Gelegenheit, um die UNRWA zu verdrängen. An ihre Stelle trat Anfang 2024 die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) – ohne Erfahrung, ohne Logistik, ohne ein verlässliches System.

Streit um Hilfsgüter
Immerhin: Die Menge an Hilfsgütern, die in die Hände der Hamas gelangt, ging dadurch spürbar zurück. Stattdessen sind es nun bewaffnete Gruppen privater «Wachleute» unter GHF-Dach, die im Verdacht stehen, sich selbst zu bedienen. Diese bestehen teils aus Clans, die vor dem Krieg fundamentalistisch-islamistisch geprägt waren – Israels Militär stattete sie mit erbeuteten Hamas-Waffen aus: Ironie der Geschichte.

Viele Hilfsgüter landen so nicht bei den Opfern des Kriegs, sondern auf den schwarzen Märkten in Gaza. Schon vor dem Krieg gab es dort Spendenprodukte – Speiseöl, Thunfisch – mit Herkunftssiegeln von UN oder Rotem Kreuz. Doch heute sind diese Waren erheblich teurer und für Vertriebene oft unbezahlbar.

GHF betreibt aktuell vier Verteilzentren im Gazastreifen. Diese reichen nicht. Es fehlen Sicherheit, Planung, Kontrolle: keine Öffnungszeiten, kein System. Es gilt «first come, first served». Wer kräftig ist, kommt ran. Kranke, Alte oder Schwangere – keine Chance. Auch UNRWA musste in Notlagen ohne Anmeldung verteilen, hatte aber früher immerhin Listen von Bedürftigen und Familieneinstufungen.

Also schicken viele Familien ihre kräftigsten Söhne los – oft schlafen diese schon die Nacht über vor den Verteilstellen, inmitten eines unsicheren Gebiets. Dort mischt sich auch die Hamas unter die Wartenden, provoziert, jagt Angst ein, schürt Panik. Es fallen auch Schüsse, gegen die Menge ebenso wie in Richtung israelischer Stellungen, die sich oft nur wenige hundert Meter entfernt befinden. Medienberichte sagen häufig: «in der Nähe eines Verteilzentrums» – nie «in einem». Die offiziellen Erklärungen lauten dann: «Bedrohungssituation für eigene Truppen.»

Krise bei Verteilung
Ein Hilfspaket enthält einige Kilo Mehl, Reis, Pasta, Öl und Bohnen. Doch wie kochen ohne Herd? In Evakuierungszonen gibt es keine Öfen. Wer über Feuer kocht, riskiert Brände. Wer Holz findet, hat Glück. Pakete wiegen 16 bis 18 Kilo – für viele nicht tragbar. Mütter bauen eigenhändig provisorische Kochstellen. Frauen halten in Gaza alles zusammen.

Für Babys, Allergiker, Menschen mit Zöliakie, Stoffwechsel- oder Blutdruckproblemen wurden laut israelischem Militär 2500 Tonnen Spezialnahrung in den letzten zwei Monaten geliefert – aber sie fehlen. In Feldlazaretten – nichts angekommen. Wohin verschwinden diese Sendungen? Manche verweisen auf lokale Clans. Krankenpapiere gelten in den improvisierten «Privatkliniken» nicht – Bargeld schon.

Oberstes Gericht eingeschaltet
Menschenrechtsorganisationen klagten jetzt erneut vor Israels Oberstem Gericht und forderten: Grundnahrungsmittel müssen durchgelassen werden. Ein erster Antrag wurde im Mai abgelehnt. Doch nun, da der internationale Druck – auch aus den USA – massiv steigt, wächst die Chance auf Überprüfung.

Nachhaltiger wäre ohnehin nur eines: Freilassung der Geiseln – und ein Ende des Kriegs. Doch beide Seiten liefern immer neue Gründe, um genau das zu verhindern.

Wie Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, einst der Hamas zurief: «Ihr Hundesöhne! Lasst die Geiseln frei – und Schluss ist!»

Norbert Jessen