UKRAINE 14. Nov 2025

Rätseln um den Zeitpunkt des Kriegsendes

Das Menora-Zentrum in Dnipro gilt als das grösste jüdische Zentrum der Welt. Gestiftet wurde es vom ehemaligen Selenski-Förderer Igor Kolomojski, welcher später wegen Korruption angeklagt wurde.

Über das Ende des Ukrainekrieges spekulieren nicht nur Politologen und Strategen – der Oberrabbiner des ukrainischen Dnipro, Schmuel Kaminetski,sieht den Krieg im Januar 2026 beendet.

Ukrainer wie Russen sind kriegsmüde. Die Gründe mögen verschieden sein, die Gestimmtheiten im gesellschaftlichen Alltag ähneln sich. Insbesondere die ukrainische Bevölkerung hat mehr Fragen als Antworten. Hat sich der millionenfache Verlust von Menschenleben gelohnt? Wofür kämpfen wir? Wer ist dieses kämpfende «Wir»?

Lassen sich für einen akuten Krieg Lektionen aus der Geschichte ziehen? Ist der Krieg Putins gegen die Ukraine, der sich bald vier Jahre hinzieht und in seinem Wesen laufend verändert, durch bekannte Muster zu deuten, vielleicht auch zu beenden? Abmachungen und Verträge wurden gebrochen. Friedensangebote ausgeschlagen. Kann sich eine Macht auf Abkommen berufen, die nicht schriftlich festgehalten wurden? Welche unumstössliche Gültigkeit hatten und haben Landesgrenzen gerade auch angesichts von sich auflösenden Imperien? Können, dürfen Landkarten neu gezeichnet werden? Sollen Grenzen eingefroren und einer späteren Korrektur unterzogen werden? Wurde und wird ein Bruch des Völkerrechtes in jedem Fall sanktioniert und welches sind die Strafen? Sind internationale Verträge einem Alterungsprozess ausgesetzt, kann ihre Kraft durch veränderte geopolitische Umstände schwinden? Oder auch durch brutale Machtpolitik? Gilt es, sich in Acht zu nehmen vor einem neuen Chamberlain, vor einer «Appeasement»-Politik zugunsten eines Aggressors? Ist der Verlust von Territorien höher zu werten als der Verlust von Menschenleben? Könnte es auch umgekehrt sein? Und welche Instanz nimmt die Wertung vor?

Fragen, die eine lange im Schatten des akuten Gefechts verharrende Diplomatie, aber auch die nicht länger unter der Kriegszensur in Schweigen verharrenden Menschen, immer vernehmbarer stellen.

Die Volksweisheit aus sowjetischen Zeiten haben beide Kriegsparteien gleichermassen verinnerlicht: Die Zukunft ist einigermassen sicher. Aber die Vergangenheit kann sich jederzeit ändern. Die Revision historiografischer Erkenntnisse ist ein durch brachialen Missbrauch in Verruf geratenes Prozedere, das die Wissenschaft freilich angesichts der Entdeckung neuer (auch mündlicher) Quellen, der Öffnung von Archiven oder der Anpassung an neue Interpretationsmethoden laufend und gewissenhaft vornimmt. Doch wenn Mythen und Nostalgie als Leitfaden dienen, wird Geschichtswissenschaft zu Geschichtsklitterung.

Ein Krieg ohne Gewinner
Das Diktum «Sieger schreiben die Ge-schichte» ist populär, führt aber zur Frage, wer als Sieger, wer als Verlierer aus einem verlustreichen kriegerischen Konflikt hervorgeht. Solange gekämpft wird, kann die Einsicht «in einem Krieg gibt es nur Verlierer» nicht überzeugen, selbst wenn die Erfahrung der involvierten Bevölkerungen längst für sie spricht. Lange konterten ukrainische Staatsmedien heikle Fragen von Studiogästen mit: «Darüber reden wir nach dem Sieg.»

Der Frieden, den sich mittlerweile die allermeisten wünschen, darf, auch wenn er nicht als makelloser Sieg erscheint, nicht zum Diktatfrieden werden. Verhandlungen, vom amerikanischen Präsidenten mit ethischer Grundierung – Handel treiben statt töten – und nicht ohne Eigeninteressen unternommen, sind bisher gescheitert. Gescheitert auch am Unwillen des ukrainischen Präsidenten Selenski, eine Verfassung zu revidieren, die den NATO-Beitritt als einen der Grundpfeiler festschreibt. Gescheitert auch an Putins Festhalten an der Behauptung, Selenski sei nicht (mehr) legitimer Präsident seines Landes und könne deshalb mit ihm – der im Übrigen sein Mandat durch Manipulation in die Zukunft, bis 2036, verlängert hat – nicht gleichauf am Verhandlungstisch sitzen.

Wunderwaffen, Tiersymbolik und Kriegsende
Anzeichen eines nahen Waffenstillstandes, wenngleich noch nicht eines dauerhaften Friedens, häufen sich. Korea wird ins Feld geführt, wo kein Blutvergiessen mehr ist und die Grenzlinie seit 50 Jahren trotz fehlenden Friedensvertrags respektiert wird. Auch Finnland, das mit dem mächtigen Nachbarn Sowjetunion in Frieden lebte, weil es bereit war, sein Karelien aufzugeben. In dem von Russland geführten Krieg in Europa sehen die Bevölkerungen keinen Sinn, und über das Ziel des Aggressors herrscht bei Beobachtern keine Einigkeit. Wunderwaffen versprechen eine Wende – auf russischer Seite die Rakete Burewestnik/Sturmvogel, die sich mit Atomsprengköpfen bestücken lässt; auf ukrainischer Seite der Marschflugkörper Flamingo mit seiner Reichweite von 3000 km. Als Wunderwaffen, die das Kriegsgeschehen zähmen sollen, können auch die Sanktionen gegen russische Geschäftsleute und Unternehmen gelten, Sanktionen, deren Umgehung freilich erfahrungsgemäss kaum verhindert werden kann. Oder die Drohung, russische Vermögenswerte im Ausland zugunsten der Ukraine einzuziehen, eine Massnahme, die viele Staaten und Wirtschaftsjuristen ablehnen.

Nicht nur die Waffensysteme tragen gerne animalische Namen. Auch gewichtige Staaten legen sich solche zu oder bekommen sie verpasst. Bei der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Schos), die mittlerweile 10 Staaten und zahlreiche Beobachter und Dialogpartner umfasst, welche am 1. September 2025 in China zusammenkamen, tauschten sich der chinesische Drache (ehemals Panda), der indische Elefant und der russische Bär aus. Die Welt ist multipolar geworden, woran sich auch die USA gewöhnen müssen. Wenn US-Präsident Trump Russland als lahmen Tiger zu kränken versucht, ist Pressesprecher Peskow nicht mundfaul und kontert: Russland ist kein Tiger, sondern ein Bär. Und wenn der erwacht, verlieren alle. Falken und Tauben sind ohnehin in jedem Konflikt im Einsatz.

Tiere bevölkern auch das Wunschdenken. Der schwarze Schwan als Retter, der das Steuer herumreisst, den Krieg zum Sieg wendet. Tschaikowskis Schwanensee war das Programm, das der zentrale sowjetische Rundfunk zu verbreiten pflegte, wenn ein Staatsoberhaupt gestorben und der Nachruf im entstandenen ideologischen Vakuum noch nicht korrekt verfasst war. Eine Musik, die heute viele erneut hören möchten.

Spekulationen über das Ende
Während Strategen Linien ziehen, die die Kämpfe stoppen, den Konflikt zumindest einfrieren sollen, spekulieren nicht nur Politologen und Strategen über den Zeitpunkt der Wende. Ein Datum für das Kriegsende sagt mit dem 15. Januar 2026 gerade Schmuel Kaminetski an, der Oberrabbiner von Dnipro. Vor dem Krieg, der mit der Annexion der Krim 2014 begann, wurde die Stadt, damals noch als Dnjepropetrowsk, durch das 2012 eröffnete monumentale jüdische Zentrum «Menora» bekannt. Dieses hatte der Oligarch Igor Kolomojski, der Vorsitzende der Vereinigung jüdischer Gemeinden der Ukraine, seiner Heimatstadt gestiftet. Kolomojskis Funktion geerbt hat Schmuel Kaminetski, als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer 1965 in Israel geboren, in den USA bei den Lubawitschern ausgebildet und seit 1990 Rabbiner im heutigen Dnipro. Er gilt als «grauer Kardinal der ukrainischen Judenheit». Dass Kolomojski auch Sponsor des Theatermannes Selenski gewesen war und diesen in seinen Medien überhaupt erst fit für das Präsidentenamt gemacht hatte, um dann vom jungen Staatschef 2022 wegen Korruption dem Strafvollzug übergeben zu werden, ist nicht vergessen.

Während die Führer der Kriegsparteien sich nur rhetorisch und oft widersprüchlich äussern, stellen andere Politiker Prognosen an. Die EU als Unterstützerin der Ukraine – Alliierte gibt es offiziell keine in diesem Krieg – ist zunehmend gespalten. Der polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski sieht den Kampf noch weitere drei Jahre andauern. Dass Ungarns Präsident Viktor Orbán – der in Budapest einen Friedensmarsch mit angeblich über 100 000 Teilnehmern organisieren liess – und auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico für ein sofortiges Kriegsende sind, ist bekannt. Bulgarische Meinungsmacher haben sich im Nachgang zur vereitelten Tomahawk-Lieferung an die Ukraine erleichtert geäussert. Diese amerikanischen Raketen hätten einzig Putin provoziert, den Krieg verlängert und noch mehr Menschenopfer gefordert. Dabei müsste doch das Feuer sofort eingestellt werden. Ist Sofia damit ein Sprachrohr Putins? Bulgarien hat ja Russland auch Überflugrechte zugesichert, sollte Putin nach Budapest fliegen, was er wohl nie ernsthaft erwog. Den Haftbefehl aus Den Haag zu ignorieren, hat auch die Schweizer Regierung versprochen, sollte Putin zu Friedensgesprächen nach Genf kommen. Dass manche Aktionen Putins Testballons sind, um Allianzen, Stabilität von Institutionen (wie dem Internationalen Strafgerichtshof) und Bündnisse (Art. 5 des NATO-Statuts) zu testen, stiftet zusätzlich Verwirrung in der wachsenden Unübersichtlichkeit.

Wie bei Trump könnte auch bei Putin gelten, auf die Taten, nicht auf die Worte sei zu achten. Doch Putin – liest man ihn im Rückblick – ist mit seinen Ankündigungen konsequenter, was auch seine Drohkulissen gefährlicher macht.

Angst vor dem Frieden und demografische Krise
Die Aussicht auf einen baldigen Frieden motiviert die Menschen jedoch nicht, sich um die Zukunft des eigenen, lädierten Vaterlandes zu kümmern. Dabei würden dann die Karten neu gemischt, die Probleme verschärft. Die kampferfahrenen Kriegsheimkehrer in gros-sen Massen und die noch grössere Zahl der Kriegsverletzten bedrohen den gesellschaftlichen Frieden und den wiederherzustellenden Wohlstand. In beiden Ländern droht dies, in der Ukraine akut. Wie schnell und ob überhaupt ein Wiederaufbau gelingt, bleibt ungewiss.

Neuwahlen, Machtkämpfe zwischen den Eliten, Wiedereinführung der Meinungs- und Medienfreiheit, Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Kampf gegen eine im Krieg noch gewachsene Korruption – all das steht bevor. Dabei soll die Bürgerschaft, Kriegsheimkehrer inklusive, an der Reparatur der baulichen und ökologischen Verheerungen mitwirken und den zivilen Umgang wieder einüben. Dass heute kaum jemand seine geistige Energie und soziale Fantasie diesen Herausforderungen widmet, wirft der ukrainische Philosoph Andrej Baumejster seinen Mitbürgern im In- und Ausland vor. Opfer des auf Kampfmodus getrimmten Landes und der Kriegspropaganda ist auch die Zivilgesellschaft. Dass in den Schulen gelehrt wird, wie Drohnen zusammengesetzt werden, dass eine Hasspropaganda gegen den Angreifer, aber auch pauschal gegen dessen Kultur und Sprache, die von einem Grossteil der ukrainischen Bevölkerung geteilt wird, das Land zunehmend spaltet, macht es für viele unbewohnbar.

Massiv ist der Bevölkerungsverlust zunächst durch Arbeitsmigration und dann seit 2014 durch Flucht – ca. 6 Millionen Ukrainer leben heute im Ausland, die sich nicht für eine Rückkehr entscheiden werden, je länger ihr Exil dauert. Es fehlen Millionen von Frauen und Kindern. Auch Deserteure, Untergetauchte und Überläufer sowie eine drastisch angestiegene Zahl von Strafgefangenen sind ein Einschnitt in den Bevölkerungsaufbau. Der grösste aber sind die Kriegstoten (auf über eine Million geschätzt) und die möglicherweise 3,5 Millionen Verletzten, Krüppel, die die Spitäler und Rehakliniken bevölkern werden. Schon bleiben in ländlichen Gebieten vor allem Alte, Frauen und Kinder zurück. Wobei die Kinder durch einen kategorischen Gebärstreik ebenfalls rar werden. Einen Streik, den geflüchtete Frauen zwar nicht befolgen, aber deren Kinder Ausländer sind.

Rette sich wer kann
Der ukrainischen Verteidigung gehen die Soldaten aus. Angeordnet wurden zunehmend brutale Rekrutierungsmethoden durch Einfangen junger Männer auf den Strassen – was jetzt, wie in der Schwarzmeerstadt Odessa, deren vor Jahrzehnten gewählter Bürgermeister unlängst wegen angeblicher Schlamperei entlassen wurde, auf bewaffneten Widerstand stösst. Bei Kiew ist ein riesiger Friedhof entstanden, der ständig wächst und im Volksmund bereits als Denkmal für die Amtszeit Selenskis genannt wird. Frische Grabfelder gibt es überall im Land. Und immer mehr Männer im dienstpflichtigen Alter entziehen sich durch Abtauchen oder schlicht Verweigerung dem Dienst. Lieber ins Gefängnis als an die Front. Sich loskaufen und ins Ausland absetzen, wird schwieriger. Seit dem Überfall Russlands im Februar 2022 ist die Grenze geschlossen für Männer zwischen 25 und 60 Jahren. Doch allein im vergangenen Jahr sollen sich schätzungsweise eine Million Männer in die Nachbarländer oder noch weiter Richtung Europa abgesetzt haben. Zuhause schliessen derweil immer mehr Betriebe – am sichtbarsten Restaurants – wegen Kunden- und Personalmangels. Frauen mit und ohne Kinder, für die die Grenze offen ist, kommen seit über dreieinhalb Jahren im Westen unter. Ihre Arbeitskraft fehlt vor allem in Spitälern, Schulen und andern Gemeindeeinrichtungen. Die demographische Katastrophe ist alarmierend. Hatte die Ukrainische Teilrepublik 1991, bei der Auflösung der UdSSR, noch rund 52 Millionen Einwohner, waren es 2022 noch gut 41 Millionen. Um ein Viertel und damit um weitere 10 Millionen ist deren Zahl inzwischen zurückgegangen. Durch Überalterung und schlechte medizinische Versorgung kamen 2023 auf 1000 Geburten 280 Todesfälle. Die Zahl der Deserteure wächst, gegen 300 000 Strafverfahren sind eingeleitet, ihnen droht unter anderem der Eigentumsentzug. Laut Prognose des ukrainischen Bevölkerungsamtes wird es im Jahr 2100 noch 15 Millionen ukrainische Bürger geben.

Auf ihrem Weg zur eigenständigen postsowjetischen Republik hat die Ukraine mit einem Identitätsproblem zu kämpfen. Nach der berechtigten Definition «Die Ukraine ist nicht Russland», die Präsident Kutschma formulierte, ordnet sich das Land inzwischen dem Programm «Die Ukraine ist Anti-Russland» unter. Bereits Poroschenko hatte unter Vernachlässigung der Tatsache, dass ein Grossteil der Bürger russischer Sprache und russisch-orthodoxer Konfession ist, das Rezept Armovir (Armija – Mova – Vira) und damit den Dreiklang Armee, ukrainische Sprache und Glaube formuliert. Aber als Selbstcharakterisierung die Negation und Kampfparole «Anti-Russland»? Mit so einem Staat als Heimat möchte sich niemand identifizieren, genauso wenig wie mit dem «Stachelschwein», als das Ursula von der Leyen die Ukraine sieht.

Wer kämpft, wer flieht, wer profitiert?
Heim in ein Vaterland, in dem neben dem beschädigten Sozialkörper zu Beginn der kalten Jahreszeit auch noch eine Energiekrise droht? Sergej Lubarsky, ein seit Langem in den USA beheimateter ukrainischer Soziologe, hat das Land seiner Jugend unlängst bereist und seine Eindrücke ins Netz gestellt. Er hat dabei auch erfragt, wer an einer Fortdauer, wer an einem baldigen Ende des Krieges interessiert ist. Ihm fielen die Luxuslimousinen in den Strassen Kiews und das reichhaltige Angebot an Restaurants und Lebensmittelgeschäften auf, die in scharfem Kontrast zur verbreiteten Armut und Zerstörung stehen. Er stellte eine Soziologie der sich teilweise überschneidenden Gruppen auf. Vaterlandsverteidiger gebe es nach wie vor, aber auch gegen 5 Millionen «Puschkinbekämpfer» (die vor allem russische Denkmäler entfernt haben wollen und darin recht erfolgreich sind), dann die wachsende Schicht der gut gefütterten Staatsdiener, dazu die auf ihr Recht auf Flucht pochenden Dienstverweigerer, die Abwartenden, die Masse derer, denen die Mittel für eine Flucht fehlen, und schliesslich die nach seiner Schätzung 7 Millionen Geflüchteten, die sich eine Verlängerung des Krieges wünschen, welche garantiert, dass sie weder zurückgeschickt werden noch aus der Sozialhilfe fallen.

Geld oder Freiheit?
Ein Heilmittel gegen den Bevölkerungsschwund gibt es so wenig wie gegen den Rekrutierungsnotstand. Freiwillige melden sich kaum mehr, anders als unmittelbar nach dem Angriff durch Putins Russland. Gelockt wird jetzt damit, dass, wer sich zur Armee meldet und in einem Jahr noch am Leben ist, das Land – dessen Grenzen nach wie vor zu sind – verlassen darf. Zu grossen Demonstrationen kam es erstmals seit Inkraftsetzung des Kriegsrechts, nachdem Selenski in diesem Sommer die Antikorruptionsbehörde NABU schliessen liess, als diese begann, ihm und seiner Entourage nachzuforschen. Die Kampfansage an diese unabhängige, mit Entwicklungsgeldern finanzierte Einrichtung löste einen Aufstand der Jugend aus. Ob dieser «Karton-Maidan», bei dem die Protestierenden selbstgebastelte Pamphlete hochhielten, gekauft oder spontan war, ist unklar. Auch hier mischen sich Information und Desinformation zu einem kaum noch zu entwirrenden Knäuel von Fakten und Gerüchten. Selenski machte seine Aktion gegen die NABU-Behörde rückgängig, soll aber in den Tagen ihrer Schliessung heikle Dossiers entfernt haben. Erwarteten Beobachter jetzt Strafmassnahmen gegen die Demonstranten, wurde stattdessen sämtlichen 18- bis 22-Jährigen die Ausreise erlaubt. Interpretiert wurde die Massnahme divers: Selenski habe Angst vor einer militanten Opposition. Wenn diese Kohorte in ein paar Jahren (noch liegt das Rekrutierungsalter bei 25 Jahren) in die Armee einbezogen werden könnte, würde sie dem Regime gefährlich. Freundlichere In-terpreten sehen dies als demographische Mass-nahme: Diese Altersgruppe sollte verschont werden, eine europäische Ausbildung absolvieren und später Land und Gesellschaft wie-der aufbauen. Seither haben sich über 100 000 junge Ukrainer beider Geschlechter abgesetzt. Selenski hat mit seinem Angriff auf die unabhängige Antikorruptionsbehörde in diesem Juli seinem Land zusätzlich geschadet – die zuständige EU-Kommission hat im November die Beitrittsverhandlungen, die Kiew bis 2028 abschliessen will, unter verschärfte Bedingungen gestellt: Professionalität und Effizienz der Justiz bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität müssten massiv verstärkt werden.

Auf die Frage, in welcher Stadt dereinst ein Denkmal für Selenski stehen könnte, antwortete ein Politologe und früherer ukrainischer Abgeordneter: «In Moskau.» Keinem Land habe der ukrainische Präsident so gute Dienste geleistet wie Russland. Andere sehen das Hauptproblem der Nachkriegsukraine darin, in dem Land den Ausbruch eines längst schwelenden Bürgerkrieges zu verhindern. Und Saluschny, der abgesetzte Verteidigungsminister und heutige ukrainische Botschafter in London, warnt: «Wir sind gegen eine Kapitulation in der Verkleidung eines Friedens.»

Regula Heusser-Markun