EUROPA 09. Mai 2025

Droht die Spaltung von Europas Juden?

Moshe Kantor (l.) fordert den amiterenden EJC-Präsidenten Ariel Muzicant und damit den ganzen Verband heraus.

Bei den Wahlen des Europäischen jüdischen Kongresses stehen sich der amtierende Präsident Ariel Muzicant und sein Vorgänger Moshe Kantor gegenüber – doch entschieden wird letztlich die Zukunft des Verbands.

Natürlich wird auch David Obadia in diesen Tagen nach Jerusalem aufbrechen. Dort wird, zwei Tage nach den Wahlen des Jüdischen Weltkongresses (WJC), am 21. Mai auch über die Spitzenämter des Europäischen jüdischen Kongresses (EJC) erneut abgestimmt. Obadia, seit einem Jahr Präsident der Vereinigung Jüdischer Gemeinschaften in Spanien, kandidiert dort auch selbst für einen Posten im Vorstand. Davon abgesehen, so ein Statement seines Verbands, soll seine Stimme dazu beitragen, die Arbeit des EJC für jüdisches Leben in Europa und den Kampf gegen Antisemitismus, «vor allem seit dem 7. Oktober 2023», fortzusetzen. Seitdem, heisst es weiter, «wir gehen durch sehr schwere Zeiten. Da brauchen wir starke, stabile und gut vernetzte Institutionen.»

Dass den Wahlen in dieser prekären Situation eine zentrale Bedeutung zukommt, liegt auf der Hand. Die Situation der jüdischen Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren quer durch Europa erheblich verschlechtert. Antisemitische Einstellungen verbreiten sich vor allem im Zuge der Kriege in Nahost in rasantem Tempo und münden immer häufiger in Wort und Tat, bis hin zur physischen Einschüchterung, Angriffen auf und Morden an europäischen Jüdinnen und Juden. Es steht wahrlich viel auf dem Spiel, und doch erschöpft sich die Bedeutung dieser Wahlen darin nicht. Sie haben noch eine andere Dimension: eine interne, die zugleich weit darüber hinausreicht.

Rücktritt aufgrund von Anschuldigungen
Im Mittelpunkt stehen die beiden Kandidaten: der Amtsinhaber Ariel Muzicant, 73, langjähriger Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und Immobilienunternehmer in der österreichischen Hauptstadt, und sein Vorgänger Moshe Kantor, 71, Ex-Präsident des Russisch-Jüdischen Kongresses, ein Moskauer Dünger-Mogul mit Notierung auf der Forbes-Liste und Philanthrop. Er stand bereits 15 Jahre lang an der Spitze des EJC, den grössten Teil mit Muzicant als Vizepräsident. Von daher war es logisch, dass dieser ihn im April 2022 beerbte, als Kantor von seinem Amt zurücktrat. Auslöser dafür war die Entscheidung der britischen Regierung, den damals in London lebenden Geschäftsmann auf ihre Liste der «umfassenden neuen Sanktionen, um Putins Kriegsmaschinerie auszuhungern» zu setzen. Als «grösster Anteilseigner des Düngemittelunternehmens Acron» sei er von «entscheidender strategischer Bedeutung für die russische Regierung», so die Begründung, sein Vermögen einzufrieren. Kurz darauf erschien Kantor auch auf der EU-Sanktionsliste. Diese machte ihn für die materielle oder finanzielle Unterstützung von Handlungen verantwortlich, welche «die territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen».

Kantor, dessen Vermögen laut Forbes auf neuneinhalb Milliarden Dollar eingestuft wird und der bereits 2016 von der israelischen Tageszeitung «Haaretz» als «Putins Mann» bezeichnet wurde, hat seine Verbindungen zum Kreml freilich immer entschieden bestritten und das auch gerichtlich beanstandet. Der Europäische Gerichtshof wies ihn freilich noch im Januar ab. Sein Nachfolger Muzicant, offiziell Interimspräsident, sprang 2023 für Kantor in die Bresche und wandte sich schriftlich an den französischen Präsidenten Macron, im Bestreben, ihn von der Sanktionsliste zu streichen. Dass er vom Ukraine-Krieg profitiere, sei nicht zu beweisen, ebenso wenig seine Nähe zum russischen Präsidenten. Kantor sei nur ein der Eigentümer eines russischen Dünger-Betriebs und die Hälfte seiner Familie zudem ukrainisch. Ihn zu sanktionieren, diene nicht dem Frieden in Europa, sondern erweise Juden einen schlechten Dienst.

Im März dann gehörte Kantor zu jenen Namen, die auf Drängen der ungarischen und slowakischen Regierungen von der EU-Liste gestrichen wurden. Andernfalls hätten Budapest und Bratislava der anstehenden turnusmässigen Verlängerung der übrigen Sanktionen nicht zugestimmt. Auf der britischen Liste ist Kantor dagegen weiterhin enthalten. Diese ist naturgemäss weniger Gegenstand von Verhandlungen als die europäische, für die die Zustimmung der moskau-freundlichen Regierungen in Budapest und Bratislava nötig ist. Unter den Personen, deren Vermögen eingefroren ist, taucht sein Name an 555. Stelle auf. Auch Polen und Estland führen Kantor auf ihren Sanktionslisten.

Nicht lange danach tauchen Gerüchte auf, Kantor, als langjähriger Präsident so etwas wie seine eigene Institution, wolle bei den Wahlen des EJC wieder antreten. Wie schon drei Jahre zuvor anlässlich seiner Sanktionierung, versuchte tachles zu dieser Zeit, mit Kantor in Kontakt zu treten und fragte mehrfach um ein Interview oder ein Statement an. Vergebens. Eine Quelle im EJC-Büro in Brüssel betont, es sei «zu früh», für Kantor, um mit den Medien zu sprechen. Ob er seine alte Position wieder anstrebe, vermochte die Person auch nicht zu sagen. Wohl berichtete sie von begeisterten Reaktionen auf die Streichung seines Namens in internen Chat-Gruppen.

Muzicant gegen Kantor?
Zu jener Zeit hatte Ariel Muzicant seine Kandidatur für eine neue Amtszeit längst eingereicht. Dies geschah «bei der letzten Sitzung des Vorstands im Dezember 2024 in Paris», berichtete er tachles Anfang Mai. «Herr Dr. Kantor hat seine Kandidatur, nachdem ein Teil der Sanktionen gegen ihn aufgehoben wurden, bekannt gegeben.» Im Brüsseler Büro des EJC ist davon freilich noch länger entweder nichts bekannt, oder man stellt sich unwissend.

Raya Kalenova, die überaus freundliche Vizepräsidentin des Vorstands und Geschäftsführerin, bittet auf Anfrage per Text-Nachricht um Verständnis dafür, dass sie derzeit nicht mit der Presse spreche, und erklärt: «Wir haben jedenfalls alle kein Recht, während der Wahl-Kampagne einen Kommentar abzugeben.» Kontaktaufnahmen per Mail mit anderen Angestellten des Brüsseler Büros, die ausdrücklich die Frage nach einer erneuten Kandidatur Kantors stellen, blieben unbeantwortet.

Fraglos gibt dies ein merkwürdiges Bild in diesen Tagen ab, zumal man auch auf der ansonsten sehr aktuellen, übersichtlichen und informativen Website des EJC nichts über die eigenen Wahlen vernimmt. Dabei gehören Transparenz von politischen und gesellschaftlichen Institutionen und nicht an ihrer Arbeit gehinderte Medien doch zu jenen demokratischen Werten, die in der gegenwärtigen Lage weltweit unter Druck stehen und für die sich Vertreterinnen und Vertreter des Kongresses zu Recht immer wieder aussprechen.

In Anlehnung an das weithin bekannte Bild, das die jeweilige Lage der jüdischen Bevölkerung mit dem Kanarienvogel in der Mine vergleicht, als Gradmesser für die Lage aller Minderheiten einer Gesellschaft, drängt sich dadurch ein anderer Schluss auf: Während dieses Bild nach wie vor seine Berechtigung hat, macht der allgemeine Verfall demokratischer Standards offenbar auch vor jüdischen Organisationen nicht halt – warum sollte er auch, sind sie doch Bestandteile der gleichen Gesellschaften und Diskurse.

Schweigen von allen Seiten
Um diesen Eindruck zu verifizieren, bräuchte es natürlich weitere und tiefere Untersuchungen über einen längeren Zeitraum. Anhand der Reaktionen aus anderen Verbänden zeigt sich unterdessen, dass das Thema der Wahlen und namentlich der erneuten Kandidatur Kantors heikle Themen sind. Yves Oschinsky, Präsident des Koordinierungskomitees jüdischer Organisationen in Belgien, erklärt zusammen mit den Verbänden aus Luxemburg und Deutschland das Organisationskomitee der Wahlen zu bilden. «Da muss ich diskret sein.»

Während der luxemburgische Teil der Troika nicht zu erreichen ist, will man sich auch beim Zentralrat der Juden nicht zum Thema äussern, auch nicht zu einer eventuellen Kandidatur Kantors. Der Repräsentative Rat der jüdischen Institutionen in Frankreich will sich bis nach den Wahlen ebenfalls jeden Kommentars enthalten. Noemi Di Segni, Präsidentin der Union italienischer jüdischer Gemeinden, lehnt die tachles-Bitte um ein Gespräch resolut mit den Worten ab: «Absolut nicht. Es ist ein internes Thema und wir werden erst nach den formellen Ergebnissen alle relevanten Stellungnahmen verbreiten.»

Ins Leere laufen zudem Kontaktversuche nach Estland und Polen, die Länder, in denen Kantor noch auf der Sanktionsliste steht, Serbien, die Slowakei, Ungarn und Tschechien. Auch das Brüsseler Büro des WJC lehnt eine Stellungnahme ab. Im April 2022 hatte der WJC noch kommentiert, dass niemand, dessen Name im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg auf amerikanischen, britischen oder EU-Sanktionslisten stehe, eine Rolle in der Organisation spielen könne.

Ralph Friedländer, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), nahm sich zu Wochenbeginn dagegen Zeit für ein detailliertes Gespräch zur Situation. Demnächst wird der SIG die Agenda der Generalversammlung des EJC beraten, ausserdem müsse er, wie alle nationalen Verbände, sich noch über den Kandidaten seiner Präferenz aussprechen. Die Entscheidung des SIG orientiere sich dabei am Ziel- nicht zuletzt finanzieller – Transparenz. «Wir wollen die früher sistierten Mitgliederbeiträge wieder einführen, denn es ist wichtig, dass die Mitglieder, wie bei anderen Dachverbänden auch, einen Beitrag an die Kosten leisten. Wir setzen auf Deutlichkeit über die Herkunft verwendeter Mittel und von Spenden. Uns sind die Einhaltung der Statuten sowie der rechtmässigen Prozeduren besonders wichtig. Das werden wir auch in der Generalversammlung vertreten», kündigt Friedländer an. Einsetzen wolle man sich auch für eine Rückkehr des britischen Verbands Board of Deputies, der im Frühling 2022 seine Mitgliedschaft im EJC suspendierte, und eine Annäherung an den WJC, wobei gemeinsame Räumlichkeiten und Personal in Brüssel Kosten einsparen könnten.

Hoffnungen auf Rücktritt
Unter den 42 Mitgliedsverbänden des EJC, dazu zählen auch die Türkei, Gibraltar, Marokko und Tunesien, gebe es freilich auch Versuche, Moshe Kantor von einem Verzicht auf seine Kandidatur zu überzeugen. «Er ist zwar von der EU-Liste gestrichen, aber auf den polnischen, britischen und estnischen noch enthalten. Dadurch wäre sein Name als Gesprächspartner und Vertreter nach aussen belastet», erklärt der SIG-Präsident.

Vorläufig aber bleibt es beim Duell Kantor gegen Muzicant. Der aktuelle Amtsinhaber macht im Gespräch mit tachles klar, dass Kantor weiterhin in drei Ländern Sanktionen unterliegt. Eine Kandidatur sei in dieser Lage keine günstige Konstellation, folgert Muzicant.

Dass er selbst nichts dagegen hätte, sich mit 73 Jahren zurückzuziehen, räumt der Wiener unumwunden ein. Zwei Gründe allerdings halten ihn davon ab: Zum einen ist da das unvollendete Projekt der letzten drei Jahre, in denen er sich für eine enge Kooperation mit dem WJC, der europäischen Rabbinerkonferenz und «den verschiedensten jüdischen Organisationen» eingesetzt habe. Diese Arbeit will Muzicant zu einem erfolgreichen Ende bringen. «Angesichts der Bedrohung des jüdischen Volkes durch einen antisemitischen Tsunami und die Feindschaft gegenüber Israel sehe ich momentan die Notwendigkeit, dass eine Einheit innerhalb der jüdischen Welt entsteht – zwischen dem jüdischen Volk intern, aber auch zwischen dem jüdischen Volk und den Vertretern des Staates Israel. Wir müssen uns in dieser Zeit der Bedrohung, des Kriegs und der Gefahr zusammentun und gemeinsam gegen unsere Gegner vorgehen. Das ist meine tiefste Überzeugung.»

Das zweite Motiv, das ihn antreibt, ist eine Struktur-Reform des EJC, vor allem im finanziellen Bereich. Muzicant will den Kongress von einzelnen Geldgebern unabhängig machen und stattdessen die finanziellen Lasten stabil auf mehrere Schultern verteilen. Als Folge davon verspricht er sich, «dass die besten Köpfe aus den jüdischen Gemeinden Europas für die Präsidentschaft kandidieren können und jeder, der die Qualität und die Fähigkeit mitbringt, Präsident des EJC werden kann, ohne dafür Millionen zur Verfügung stellen zu müssen, um die laufenden Kosten zu decken.»

Ein Modell, das sich offenbar vom Zustand des EJC unter Moshe Kantor, dessen immenses Vermögen in Kombination mit seiner Freigebigkeit und Grosszügigkeit als Philanthrop zu Strukturen der Abhängigkeit geführt haben, abhebt. Dass dies den eingangs erwähnten demokratischen Standards nicht bekömmlich war, zeigte sich schon vor drei Jahren, als tachles versuchte, innerhalb des Kongresses die Rolle Kantors zu eruieren. Tiefe Dankbarkeit für seine Grosszügigkeit und Einsatz für das jüdische Leben in Europa standen damals einer nuancierteren Sichtweise im Weg.

Insofern steht der EJC mit den Wahlen in Jerusalem an einer Weggabelung. Nicht nur zwei Kandidaten stehen zur Auswahl, sondern zwei Konzepte mit weitreichenden Folgen – Konzepte, die, die Frage beantworten können, die Ariel Muzicant ausspricht: «EJC, wohin wird die Reise gehen?»

Tobias Müller