Das Jüdische Logbuch 12. Apr 2019

Die Lüge als Programm

Basel, April 2019. Was ist in den letzten Wochen nicht alles gesagt, geschrieben, geschrieen und verbrochen worden. Die Wahlen sind vorbei in Israel – und die Frage stellt sich, ob Binyamin Netanyahu nun den Trump macht. Die Lüge hat immer schon zur Politik gehört. Seit Jahrhunderten. Doch die Qualität der vorsätzlichen Lüge hat zugenommen. Donald Trump hat der unverhohlenen Lüge Tür und Tor geöffnet, durch die sie jetzt von Brasilien, Jerusalem oder Budapest schreitet. Gleichgültig kann das niemandem sein – weder Individuen oder Gesellschaften. Niemandem der oder die immer wieder Opfer von Lüge waren. Donald Trump ist nicht nur ein notorischer, sondern auch ein vorsätzlicher Lügner. Trumps Lügen sind nicht mal von ihm selbst bestritten werden, sondern zu seiner öffentlichen Person gehören. Trumps Lügen sind so bewiesen wie die Tatsache, dass Winston Churchill Zigarren geraucht hat, Bill Clinton eine sexuelle Beziehung mit Monica Lewinsky führte oder der Kindsmissbrauch unter katholischen Geistlichen keine Ausnahme ist. Trumps Lügen sind Teil seiner Identität. Seine Lügen sind geradezu legitimiert durch die Wählerschaft. Doch genau damit beginnt eine neue Ära für Demokratien wie die USA, die die Gewaltentrennung kennen und das Rechtssystem tief verinnerlicht haben. Das System ist der Lüge kaum oder nur mit immensem zeitlichen Verzug gewachsen. Trumps offensichtliche und vorsätzliche Lügen erfolgen im Wissen derjenigen, die eigentlich die Pflicht haben, die Bürgerinnen und Bürger wahrheitsgemäss zu informieren – und mit dem Segen jener, die ihn gewählt haben.

Unabhängig von Fragen des Anstands und der Redlichkeit gibt es da ein Novum: Wer Trump als Lügner bezeichnet, spricht ein Faktum aus. Trump könnte diese Aussage nirgendwo auf der Welt als Lüge einklagen. Gleichzeitig kann vermutlich niemand auf der Welt Trumps Lügen erfolgreich einklagen, weil diese Teil des öffentlichen Wissens und somit für jeden erkennbar sind. Wenn die «Washington Post» oder die «New York Times» regelmässig Trumps Äusserungen und Tweets auf Doppelseiten einem Faktencheck unterziehen, so zeigt sich, dass Trumps Lügen Teil seines politischen Programms geworden sind. Da geht es nicht um Interpretationsspielräume, Missverständnisse und einzelne Falschaussagen, sondern eben um ein System. Mit seiner Agitation hat Trump den mentalen Boden für Populisten gleicher oder noch schlimmerer Art von Brasilien, Ungarn bis Venezuela bereitet. Viele dieser Despoten und Lügner können aber, anders als Trump, kaum abgewählt werden. Und er hat in Israel einen Wahlkampf ermöglicht, der in dieser hasserfüllten Intensität vor Trump nicht möglich gewesen wäre.

Eine Lüge ist nicht eine Lüge. Ob die Lüge das Gegenteil der Wahrheit ist, bliebe zu debattieren. Und ob sie nur mit moralischen Parametern gemessen werden kann, ist zu bezweifeln. Alles ist komplizierter, so, wie das Gegenteil von Liebe nicht Hass oder dasjenige von Leben nicht der Tod ist, wie Elie Wiesel es einst in seiner Friedensnobelpreisrede 1986 formulierte.

Das Problem der Lüge ist nicht, dass sie existiert. Die Geschichte der Menschheit beginnt mit der Lüge im Paradies, die Adam und Eva einst daraus vertrieb. Das war Pech. Doch mehr als unglücklich ist es, wenn die Lüge politisch wird, denn dann bringt sie die Demokratie in Gefahr und noch mehr das Individuum darin. Auch die politischen Massenmorde des 20. Jahrhunderts basierten auf Lügen. Die vorsätzliche Lüge kann und soll heute strafbar sein – und sie wird Donald Trump dereinst um die Ohren fliegen, wenn das Weisse Haus und somit sein Amt ihn nicht mehr schützen. Das gleich gilt für Binyamin Netanyahu, der in einer ganzen Tradition bereits verurteilter Männer steht, von Abraham Hirschson, Moshe Katsav bis Ehud Olmert. Nach der Ära Trump wird vieles neu justiert werden müssen. Doch bis dann hat die Generation von Politikern, denen er den Weg geebnet hat, gewütet, zerstört und zurückbuchstabiert. Politiker, die ohne Trump nicht mit dieser Vehemenz den ökologischen und sozialen Wandel gegen die – übrigens stark als jüdisch konnotierte – Liberalität irgendwo einfordern würden. Der politische Skandal und die Lüge werden auch da nicht ausbleiben. Doch nach Trump wird lange kein Präsident mehr kommen, der für die personifizierte Lüge steht. Ob der Schutz der Lüge allerdings ideologischen Programmen unterstellt werden und zur parteipolitischen Zuordnung gemacht werden sollte, soll nicht dahingestellt bleiben. Die vorsätzliche politische Lüge darf nicht Teil demokratischer Systeme werden. Bis jetzt war sie das Mittel von Despoten, totalitären Regimen und der menschenfeindlichen Propaganda.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann