standpunkt 04. Jul 2025

Jüdische Präsenz ist wichtig

Eigentlich meide ich Demonstrationen. Grosse Menschenmengen sind mir ungeheuer. Zudem versuche ich, den Schabbat zu wahren und verbringe ihn so ruhig wie möglich. Für die Gaza-Demonstration vom 21. Juni habe ich jedoch eine Ausnahme gemacht.

Denn ich teile die Anliegen der Organisatoren: dass der Hunger, die Zerstörung und das Töten in Gaza endlich aufhören müssen. Dass die Menschen in Gaza dringend eine sichere humanitäre Versorgung brauchen. Dass Geiseln und unrechtmässig Gefangene freikommen müssen.

Ich bin mit gutem Gefühl nach Bern gefahren. Die Organisatoren haben sich im Vorfeld klar von Gewalt und Antisemitismus distanziert. Dass alt Bundesrätin Ruth Dreifuss eine Rede halten würde, hat mir signalisiert, dass diese Demo der richtige Ort für mich sein würde.

Es nahmen mindestens 100 jüdische Menschen an der Demonstration teil. Bei rund Zehntausend Teilnehmenden waren Jüdinnen gemessen am Bevölkerungsanteil also dreifach überproportional vertreten.

«To save a life is to save the world» malte ich auf mein Plakat. Inspiriert von Mischna Sanhedrin (4:5) drückte ich damit meine Überzeugung aus, dass allen Menschen eine fundamentale Würde innewohnt. Als klar erkennbare jüdische Gruppe erhielten wir ausnahmslos positive Reaktionen. Viele Menschen kamen auf uns zu, um ihre Dankbarkeit über unsere Präsenz auszudrücken. Ein älterer Mann aus Gaza umarmte mich.

Entgegen der expliziten Aufforderung der Organisatoren nahmen auch einige Personen teil, die implizit und in mindestens einem Fall explizit Gewalt gegen Zivilisten legitimierten: so schwenkte eine kleine Gruppe ein Transparent der PLFP, die für ihre Terrorangriffe in den 1960er Jahren und der zweiten Intifada bekannt ist.

Warum fühlte ich mich trotzdem sicher? Weil ich sah, wie sich die Organisatorinnen und Organisatoren aktiv bemühten, problematische Schilder zu entfernen. Das ist ihnen auch mehrfach gelungen, wie zum Beispiel im Fall eines Plakats, das die Shoah referenzierte. Einige der destruktiven Teilnehmenden waren anscheinend auf die SP wütend, weil ihnen deren Positionen nicht radikal genug sind. So wurde SP-Co-Präsident Cédric Wermuth bei seiner Rede von einigen laut ausgebuht. Die Organisatoren machten wiederholt klar, dass an der Demo für Gewaltaufrufe, Störungen und Antisemitismus kein Platz sei. Die Menge auf dem Bundesplatz reagierte jeweils mit starkem Applaus. Genauso gab es Applaus für die Forderung von Frau Dreifuss, dass die israelischen Geiseln freikommen müssen.

In meiner Wahrnehmung war also die überwältigende Mehrheit auf den Bundesplatz geströmt, um ihrer Bestürzung über die Zerstörung Gazas und die Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser Ausdruck zu verleihen. Dieser friedliche Einsatz für die Menschenwürde muss in Anbetracht des unermesslichen Leids in Gaza möglich sein. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, wie die Menschen im völlig zerstörten Gaza ausharren müssen – mehrfach vertrieben, hungrig, in ständiger Angst. Gemäss neuesten wissenschaftlichen Schätzungen wurde ungefähr jeder 20. Bewohner von Gaza in diesem Krieg getötet. UNICEF geht davon aus, dass rund 50 000 Kinder aus Gaza tot oder verletzt sind. Viele weitere Tausend sind zu Waisen geworden. Das ist so unvorstellbar wie unerträglich.

Gleichzeitig wird die Gewalt der israelischen Besatzung der Westbank von Monat zu Monat brutaler und auch Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft sind zunehmend bedroht und diskriminiert.

Es empört mich, dass die israelische Regierung auf die Kriegsverbrechen des 7. Oktober mit einer nicht endenden Welle an Kriegsverbrechen antwortet. Und dass sie zur Legitimation ihrer Kriegsverbrechen die Shoah und damit das Leiden meiner Familie instrumentalisiert.

Militärischer Gewalt mit dem Recht entgegenzutreten, steht nach meinem Verständnis in der Tradition der Propheten. So sagte es Rabbi Abraham Heschel, als er Isaiah (1:17) zitierte: «Devote yourselves to justice; Aid the wronged.» (Widmet euch der Gerechtigkeit; helft den Ungerechten.)

Für Völkerrecht und Gleichheit haben sich an der Demonstration auch die palästinensischen Redenden Tawfiq Darwish und Shirine Dajjani stark gemacht, die ich beide persönlich kenne. Es ist ihre und meine Hoffnung, dass meine israelischen und ihre palästinensischen Familien, Freunde und Verwandten eines Tages in Würde, Sicherheit und Freiheit zusammenleben können.

Ivo Scherrer ist Politökonom und Strategieberater in Zürich.

Ivo Scherrer