standpunkt 12. Dez 2025

Herzls Chanukkabaum

Vor 130 Jahren, am Heiligabend des Jahres 1895, besuchte der Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann Theodor Herzl in dessen Wiener Residenz. Herzl war gerade aus Paris zurückgekehrt und er und seine Familie waren in festlicher Stimmung. Wie Güdemann in seinen Memoiren berichtet, kam es jedoch noch vor Beginn des Treffens zu einem peinlichen Zwischenfall. «Ich wurde in ein grosses Empfangszimmer eingelassen und fand – man stelle sich meine Überraschung vor – einen grossen Weihnachtsbaum. Kurz darauf kam Herzl in Begleitung von Oppenheim, der auch Herausgeber der ‹Neuen Freien Presse› war. Die Unterhaltung – in Gegenwart des Christbaums – war schleppend, und ich empfahl mich bald.»

Dass Herzl und seine Familie Weihnachten feierten, war nichts Ungewöhnliches. Viele deutsche Jüdinnen und Juden taten dasselbe. Herzl begnügte sich jedoch nicht damit, das christliche Lichterfest einfach zu feiern. Als assimilierter Jude verfolgte er einen umfassenderen Ansatz. Am selben Heiligabend verfasste Herzl einen eigenen Tagebucheintrag, der direkt mit dem von Güdemann zu korrespondieren scheint. «Eben zündete ich meinen Kindern den Weihnachtsbaum an, als Güdemann kam. Er schien durch den ‹christlichen› Brauch verstimmt. Na, drücken lasse ich mich nicht! Aber meinetwegen soll’s der ‹Chanukkabaum› heissen».

Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen Herzl die Chanukka-Menora, wie Herzl den achtarmigen Chanukka-Leuchter nennt, mit einem Baum vergleicht. In dem erst nach seinem Tod veröffentlichten Gedicht «Menorah» stellt er sich die Chanukkamenora ausdrücklich als Baum vor. Von zionistischen Inspirationen motiviert, möchte er das statische Objekt in einen lebendigen Organismus, einen «Silberbaum», verwandeln und damit das Wiederaufleben des jüdischen Volkes andeuten: «Ein kleiner, schlanker Silberbaum / Der ist von wunderbarer Art: / Im Sommer treibt er den Wintertraum, / Doch kommt der Winter streng und hart, / Dann treibt das Bäumchen Blüten. / Die Blüten sind gar lieb und hold / In ihrem bunten Farbenspiel; / Ein blauer Kelch, ein Rand von Gold, / Das wiegt sich leicht auf schlankem Stiel, / Es sind acht strahlende Lichter.» Die Ähnlichkeit zwischen der von Herzl beschriebenen Menora und einem Weihnachtsbaum ist kaum zu übersehen.

An Chanukka 1897, zwei Jahre nach seinem Treffen mit Rabbiner Güdemann und einige Monate nach dem ersten zionistischen Kongress in Basel, veröffentlichte Herzl unter dem Pseudonym Benjamin Seff eine kurze Geschichte mit dem Titel «Die Menorah». Die Geschichte handelt von einem assimilierten jüdischen Künstler, der dem Autor ähnelt und dessen Rückkehr zu seinen jüdischen Wurzeln. Obwohl er die Flamme des Judentums in sich spürt, fühlt er sich in seinen «nichtjüdischen» Gewohnheiten zu sehr gefangen. Die Idee, wie er diese Herausforderung überwinden kann, findet er schliesslich in der Chanukkamenora. Sie inspiriert ihn sowohl als Mann aus einem traditionellen jüdischen Elternhaus als auch als assimilierten Künstler. Intuitiv findet er in der Form der Menora, die er mit der eines Baumes vergleicht, etwas, das zwischen seinen jüdischen Wurzeln und seinem Wunsch, über sie hinauszuwachsen, vermitteln könnte. «Die Gestalt war offenbar einst vom Baum genommen worden. In der Mitte der stärkere Stamm, rechts und links vier Zweige, einer unter dem andern, die in einer Ebene liegen und alle acht sind gleich hoch. Eine spätere Symbolik brachte den neunten kurzen Arm, welcher nach vorne steht und der Diener heisst.» Von der alten Form inspiriert, aber nicht von ihr beherrscht, beschliesst er, eine neue Version der Menora zu entwerfen. Sie soll sein Gefühl für seine alte, neue Identität besser zum Ausdruck bringen. Er möchte aus dem leblosen Objekt etwas Lebendiges erschaffen. «Und unser Mann, der ja ein Künstler war, dachte bei sich, ob es denn nicht möglich wäre, die erstarrte Form der Menorah wiederzubeleben, ihre Wurzeln zu tränken, wie die eines Baumes.» Zunächst wurde er von seinen jüdischen Freunden verspottet, doch er setzte seine «Heimkehr» fort, indem er seinen Kindern die Geschichte von Chanukka beibrachte und ihnen erlaubte, sie ihm am zweiten Tag zu erzählen. So können Vergangenheit und Zukunft, alte und neue Generationen, in Harmonie zusammenleben und einander bereichern. «Unser Freund erzählte seinen Kindern, was er wusste. Es war nicht gerade viel, aber ihnen genügte es. Bei der zweiten Kerze erzählten sie es ihm wieder, und als sie es ihm erzählten, erschien ihm alles, was sie doch von ihm hatten, ganz neu und schön.» Mit dem neu eingewurzelten Chanukkabaum soll die Wiederbelebung des Chanukkafestes und des jüdischen Volkes im Allgemeinen symbolisiert werden.

Der Protagonist, der sich mit der Schamasch-Kerze (dem Diener) vergleicht, scheint eine neue Tradition schaffen zu wollen: ein alt-neues Chanukka, das alte jüdische Wurzeln mit neuen, assimilierten Elementen verbindet. Dies tut er, indem er die beiden wichtigsten Symbole der beiden Lichterfeste – die Menora und den Weihnachtsbaum – miteinander kombiniert und einen Chanukkabaum schafft. Und so beendet Herzl seine kleine Geschichte mit einem Satz, in dem er seine Berufung beschreibt: «Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.»

Oded Fluss ist Co-Leiter der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.

Oded Fluss