Sidra Wajeschew 12. Dez 2025

Gewalt von und unter Brüdern

Als Martin Buber und Franz Rosenzweig vor genau 100 Jahren den ersten Teil ihrer «Verdeutschung der Schrift» vorlegten, erregte dies viel Aufsehen und auch einige Kritik, weil ihr Stil manchen als pathetisch und dem flüssigen Lesen entzogen galt. Beide erklärten in der Folge ihr Verfahren, das durch ihren Blick auf den Tanach bedingt war, in Vorträgen und Aufsätzen. Martin Buber erklärte seinen sogenannten Leitwortstil, gemäss welchem er versuchte, Wörter mit gleicher hebräischer Wurzel durchgehend so zu übersetzen, dass die Gleichheit sich auch im Deutschen widerspiegelt. Franz Rosenzweig sprach, daran angelehnt, vom «Formgeheimnis der biblischen Erzählungen», womit er die intertextuelle Verbindung zeigen wollte, die durch den Gebrauch gleicher Wörter an verschiedenen Bibelstellen eine ganz neue Form der Sinnzusammenhänge über den ganzen Text hinweg als Angebot der Auseinandersetzung für den Leser eröffnete.

Ein Wort, das nicht viele Übersetzungsvarianten bietet, das aber über mehrere Sidrot von Bereschit verteilt interessante Rückschlüsse zulässt, ist das hebräische Wort «achim», «Brüder». Und es ist schon Raschi gewesen, der diese Verbindungen aufgezeigt und kommentiert hat. Beginnen wir mit der letzten von drei Stellen, auf die Raschi sich bezieht und die wir in drei Wochen, in der Sidra Wajechi, lesen werden. Dort kommentiert Raschi die Worte, die der auf dem Sterbebett liegende Jakov, im Rahmen der Segenssprüche an seine Söhne an Schimon und Levi gemeinsam richtet. Es sind eher Worte der Resignation und Distanzierung. Die Sätze sind in ihrer Bedeutung gar nicht so klar, die einzelnen Übersetzungen klingen unterschiedlich, ich entscheide mich hier für diejenige der Zürcher Bibel: «Schimon und Levi sind Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Pläne. In ihren Kreis will ich nicht eintreten, mit ihrer Versammlung soll sich mein Herz nicht vereinen, denn in ihrem Zorn haben sie Männer gemordet und in ihrem Mutwillen Stiere gelähmt» (1. B. M. 49,5–6).

So komplex auch die Sätze zu verstehen sind, klar ist, dass Jakob grösste Vorbehalte gegenüber diesen beiden Brüdern hat, und klar ist eben auch dies: Die ersten Worte lauten jedenfalls: Schimon und Levi sind Brüder. Raschi fragt sich nun mit Recht, warum Jakob diesen doch klaren Sachverhalt erwähnt. Seine Erklärung lässt einen erschauern: «Schimon und Levi sind Brüder, eines Sinnes, gegen Schechem und gegen Josef. Sie sagten einander: Lass uns gehen und ihn töten.»

Dass Schimon und Levi als «Brüder» gemeinsam handelten, als sie – was wir in der Sidra Wajischlach gelesen haben – die soeben beschnittenen und deshalb wehrlosen Bewohner von Schechem getötet haben, nachdem der dortige Königssohn ihre Schwester Dina entführt hatte, wird explizit berichtet. Raschi leitet nun auch her, dass in der Sidra Wajeschew, wo nur von «den Brüdern» die Rede ist, die beschlossen, den ihnen verhassten Bruder Josef zu töten (1. B. M. 37,19–20), ebenfalls diese beiden gemeint sind. Denn Ruben und Juda, ebenfalls Söhne Leas, wollten Josef ja beide nicht töten, und die jüngsten Söhne Leas, Issachar und Sevulun, hätten in Gegenwart der älteren Brüder nie das Wort geführt. Die Söhne der beiden Mägde Silpa und Bilha hegten aber laut Raschi ohnehin weniger Groll gegen Josef.

Die Lehre, die wir aus diesem Kommentar Raschis ziehen, ist frappant: Denn dass Schimon und Levi bereit waren, ihrer Schwester Dina zuliebe die Männer von Schechem zu töten, ist zwar verabscheuungswürdig und wurde von ihrem Vater Jakob auch verurteilt – doch sie taten es immerhin als «Brüder Dinas» (35,25), weil sie (wie Raschi zur Stelle ebenfalls erklärt) ihr eigenes Leben für ihre Schwester aufs Spiel setzten. Aber dann, in unserer Sidra, zeigt sich etwas Beängstigendes: So wie sie bereit waren, ihrer Schwester zuliebe die Leute von Schechem zu töten (die ja in ihrer Masse auch nicht schuld an der Missetat ihres Prinzen waren), sind sie auch bereit, ihren eigenen Bruder Josef zu töten. Das Bewusstsein, Probleme durch Mord aus der Welt schaffen zu können, entwickelt eine Eigendynamik und macht am Ende vor den nächsten Verwandten nicht mehr halt.

Dasselbe gilt für Gesellschaften: Die Gefahr, dass die Anwendung tödlicher Gewalt gegen ganze Gruppen von Feinden, die vielleicht viele Menschen einer Gesellschaft noch gutheissen, am Ende auch in die Gesellschaft selbst ausstrahlt und sich gegen deren eigene Mitglieder richten kann (die dann kurzerhand als «innere Feinde» bezeichnet werden), ist beträchtlich, da Gewaltanwendung und Töten ihre eigene «innere Logik» entwickeln können. Dies kennen wir aus vielen historischen Beispielen. Raschi hat es am Beispiel der Brüder Schimon und Levi bereits vor fast 1000 Jahren in prägnantester Form benannt.

Alfred Bodenheimer