«Ich habe grosse Sehnsucht nach einer besonderen Art von Welt, in der man arbeiten und atmen und sich manchmal wie verrückt freuen kann.»
Anna Seghers
Und dann sitzen wir im guten Fall an einem Tisch, und haben eine Wohnung, und nicht allein sind wir, wenn wir Glück haben, dann leben wir im privaten in einer heilen Welt und können die grosse vergessen. Die ist dort, vor dem Fenster, kaum erkennbar, denn es ist fast Winter und dunkel, und die Kerzen brennen und es ist Freitag, zu essen haben wir, und atmen können wir. Die Unruhe ist woanders.
Sie ist in den Nachrichten oder bei entfernten Bekannten, mit ihren Sorgen und Krankheiten, sie ist in den Meldungen über den Verlust der Wohnung, des Partners, der Gesundheit, und das lässt uns nicht schlafen in der Nacht – was wäre, wenn. Was wäre, wenn da ein Krieg käme, ein Verlust des Gesparten, der Familie, was da nicht alles passieren kann.
Aber daran denkt man nicht, nie denkt man innerhalb der eignen Welt an deren Ende, das passiert nur draussen, vor der Tür, im kalten Licht der Erde, wenn flackernde Nachrichten in die Wärme dringen, verstörende Bilder von Kriegen, Unruhen, Demonstrationen, Naturkatastrophen, als ob sich draussen grosse Löcher auftäten und das Leben auf der Erde verschlingen wollten. Wir halten uns fest, wir meiden die Nachrichten, wir haben Angst, aber was kann man tun? Es geht uns noch gut, in der Wohnung, mit den Menschen. Wir sind nicht die dort am Strassenrand, die selbstverschuldet alles verloren haben, was man immer meint: die Freunde, den Job, die Wohnung die Gesundheit, weil Menschen durchdrehen, ohne die scheinbare Sicherheit, die so schnell verschwinden kann. Ein paar Sekunden, in denen man zu einem Pflegefall werden kann, oder eines aus der Familie, in denen der Job verschwindet, das Geld nicht mehr viel Wert ist, man um Hilfe bitten muss in einem Land, das sich Hilfe leisten kann, es den Hilfesuchenden doch nicht zu leicht macht, diese zu bekommen.
Ja nun. Was kann man da schon tun, wenn man das Elend nicht einmal sieht in der Schweiz. Da ist es schön verborgen hinter Türen und in Heimen, und irgendwo in den Unorten.
Aber – ich glaube daran, dass die meisten Menschen anderen helfen wollen. Dass sie mitfühlender sind, weniger gleichgültig, als Pessimisten vermuten. Ich glaube, dass man die Kriege nicht beenden kann, aber viel bewirken kann, wenn man das Haus verlässt und in die Kälte geht. Einsamen zuhören, Kranken helfen, Traurige besuchen. Es ist anstrengender, als die Schweiz in Leitartikeln zu kritisieren oder Politiker im Netz zu beschimpfen, und doch so viel wirksamer, denn es ist Menschlichkeit. Die eigne kleine Welt zu erweitern, jetzt, in der Dunkelheit, das Leben Trauriger ein wenig heller zu machen, ist nicht weniger als der Versuch, die Welt zu heilen.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerinund Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.
die literarische Kolumne
05. Dez 2025
Die Unruhe ist woanders
Sibylle Berg