Letzte Woche hat sich etwas Historisches ereignet: In Deutschland wurde das israelische Raketenabwehrsystem Arrow 3 eingeführt. Wenn man bedenkt, wo sich das deutsche und das jüdische Volk vor rund 80 Jahren befanden, ist dieses Ereignis nichts anders als sensationell. Der «Riese», der den «Zwerg» beinahe vernichtete, wird nach einigen Jahren von demselben abhängig, um seine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Die Ironie der Geschichte. Gibt es unter den vielen zwischenmenschlichen Beziehungen in der Bibel eine ähnliche Konstellation?
Als Erstes kommt mir der Wochenabschnitt in den Sinn, in welchem vom Beginn der Josefsgeschichte erzählt wird. Josef, der zweitjüngste unter den Kindern Jakobs, wird von seinen Brüdern beinahe getötet und schliesslich in eine Grube geworfen, ehe er an ismaelitische beziehungsweise midianitische Händler verkauft und nach Ägypten verschleppt wird (1. B. M. Kap. 37). Nach zwei Jahrzehnten ändert sich das Blatt schlagartig: Der hilflose Josef, der dem Tod so nahe war und jahrelang in ägyptischen Kerkern schmorte, arbeitet sich wundersam zum Vizekönig hinauf (Kap. 39–41). Und nun geschieht das Unfassbare. Dieselben Brüder, die ihn vor rund 20 Jahren kaltblütig ermorden wollten, leisten ihm nun eine Audienz, damit er ihnen und ihren Familien mit seinem – dank seiner Weisheit in Fülle gelagerten – Getreide das Leben rette (Kap. 42). Auch nach Josefs Offenbarung und der von ihm orchestrierten Übersiedlung seiner Familie von Kanaan nach Ägypten breitet der einst gehasste Josef seine beschützenden Fittiche über seine Brüder aus: «Und Josef wies seinem Vater und seinen Brüdern Wohnsitze an und gab ihnen Grundbesitz im Land Ägypten, im besten Teil des Landes, im Gebiet von Ramses, wie der Pharao befohlen hatte. Und Josef versorgte seinen Vater und seine Brüder und das ganze Haus seines Vaters mit Brot nach der Zahl der Kinder» (47:11–12). Josef wurde in seiner Jugend von seinen Brüdern gehasst und um ein Haar umgebracht. Doch einige Jahre später wurde er ihr Lebensretter. Die Ironie der Geschichte.
Eine weitere biblische Episode, die eine ähnliche Abfolge zwischenmenschlicher Verhältnisse beschreibt, findet sich im 2. Buch Samuel. Dort wird von der Person Mefiboschets erzählt, der einzigen gelähmten Person in der Bibel. Die Schrift schildert, wie es dazu kam: «Jonathan aber, der Sohn Sauls, hatte einen Sohn, der an beiden Füssen gelähmt war. Als er fünf Jahre alt war, kam die Todesnachricht von Saul und Jonathan aus Jesreel. Da nahm ihn seine Amme auf und floh. Und es geschah, als sie in Eile floh, da fiel er hin und wurde lahm; und sein Name war Mefiboschet» (2 Samuel 4:4). Als Hintergrund sei erwähnt, dass König Saul nach anfänglich positiver Hingabe zu David einen beinahe irrationalen Hass gegen Letzteren entwickelte und ihn sogar mehrmals umzubringen versuchte: «Und Saul blickte neidisch auf David von jenem Tag an und forthin. Und es geschah, dass am folgenden Tag der böse Geist von Gott über Saul kam, so dass er im Haus drinnen raste. David aber spielte mit seiner Hand auf den Saiten, wie er es täglich zu tun pflegte. Und Saul hatte einen Speer in der Hand. Und Saul warf den Speer und dachte: ‹Ich will David an die Wand spiessen!› David aber wich ihm zweimal aus» (1 Samuel 18:9–11). Nachdem König Saul im Krieg gegen die Philister gefallen war (Kap. 31), wurde David zum König Jehudas erkoren (2. Samuel Kap. 2). Obwohl Saul zeitlebens mehrmals versucht hatte, David zu töten, erbarmte sich dieser: «Und der König sprach: ‹Ist noch jemand da vom Haus Sauls, dass ich Gottes Gnade an ihm erweise?› Ziba sprach zum König: ‹Es ist noch ein Sohn Jonathans da, der lahm an den Füssen ist.› Und der König sprach zu ihm: ‹Wo ist er?› Und Ziba sprach zum König: ‹Siehe, er ist in Lodebar, im Haus Machirs, des Sohnes von Amiel.› Da sandte der König David hin und lies ihn aus Lodebar holen, aus dem Haus Machirs, des Sohnes von Amiel. Und Mefiboschet, der Sohn Jonathans, des Sohnes Sauls, kam zu David, und er fiel auf sein Angesicht und verneigte sich. Und David sprach: ‹Mefiboschet!› Er aber sprach: ‹Siehe, dein Knecht!› Und David sprach zu ihm: ‹Fürchte dich nicht; denn ich will gewiss Gnade an dir erweisen um deines Vaters Jonathan willen und will dir alle Felder deines Vaters Saul wiedergeben; du aber sollst täglich an meinem Tisch das Brot essen!› Da verneigte er sich und sprach: ‹Wer bin ich, dein Knecht, dass du dich wendest zu einem toten Hund, wie ich einer bin?› (9:3–8). König David hätte allen Grund der Welt gehabt, dem gelähmten Enkel Sauls seinem nicht rosigen Schicksal zu überlassen. Schliesslich verübten dessen Grossvater Saul und weitere Mitglieder seiner Familie gegenüber David mehrere Attentatsversuche. Aber David war nicht nachtragend. Das Haus Sauls war der Ausrottung nahe. Trotzdem ernährte und beschützte der jüdische König den Enkel jenes Königs, der ihn einst vernichten wollte. Die Ironie der Geschichte.
Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Josef und seinen Brüdern respektive zwischen David und dem Hause Sauls widerspiegeln eine besondere Konstellation, in welcher der Unterdrückte nach zwei Jahrzehnten oder Generationen zum Beschützer des Unterdrückers wurde. Die unglaubliche Ankunft des israelischen Arrow 3 in Deutschland widerhallt also gewissermassen in der Bibel. Die Ironie der Geschichte.
Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.
Talmud heute
12. Dez 2025
Die Ironie der Geschichte
Emanuel Cohn