Jacques Lande hat die ICZ durch die Pandemie und die Nahostkrise geführt – nun zieht er Bilanz, blickt auf den Zustand der Gemeinde und die bevorstehenden Wahlen.
Als Jacques Lande 2020 das Präsidium der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) übernahm, traf er auf eine Gemeinde, die von internen Diskussionen, Misstrauen und einer verhärteten Debattenkultur geprägt war. Konflikte um das Rabbinat mit dem damaligen Assistenzrabbiner Elijahu Tarantul, Gemeinderestaurant, Diskussionen über Strukturreformen und Transparenz, Fragen zur Integration nichtjüdischer Partner sowie Auseinandersetzungen über Mitgliedschaftsmodelle und Finanzen hatten die Einheitsgemeinde belastet. Lande setzte damals auf Vertrauensbildung und Deeskalation: Er wollte Abläufe ordnen, Brücken zwischen religiösen und säkularen Mitgliedern bauen und die ICZ innen wie aussen stabilisieren. Sein Ziel war eine offene, modernisierte und konfliktärmere Gemeinde, die junge Mitglieder anspricht und interne Gräben überwindet. Er trat an als Mittler – zugleich aber als einer, dessen Mittelpunkt das Minjan Wollishofen und somit der modern-orthodoxe Flügel der Gemeinde war.
Von inneren zu äusseren Debatten
Sechs Jahre später steht die ICZ erneut vor einem entscheidenden Moment. Am kommenden Wochenende wählt die grösste jüdische Gemeinde der Schweiz ein neues Präsidium – und die Vorbereitung darauf fällt in eine Phase zunehmender Spannung. Lande selbst nutzte seinen letzten öffentlichen Auftritt im Zürcher Kantonsrat, um eindringlich vor einer «wachsenden Welle antisemitischer Vorfälle» zu warnen. Er verwies auf die über 750-jährige jüdische Präsenz in Zürich und betonte, dass sich viele Jüdinnen und Juden kaum noch trauten, religiöse Symbole im Alltag sichtbar zu tragen. Politik und Gesellschaft, so seine Forderung, müssten jüdisches Leben aktiv schützen – von Synagogensicherheit bis zur Selbstverständlichkeit jüdischer Präsenz im öffentlichen Raum.
Auch seine Präsidialzeit sei geprägt gewesen von Krisen, sagt Lande rückblickend: Pandemie, Krieg in der Ukraine, der 7. Oktober und ein spürbar erstarkter Antisemitismus. Dennoch sei die Gemeinde handlungsfähig geblieben und habe solidarisch reagiert. Sein politisches Vermächtnis: Die ICZ solle ein Ort bleiben, an dem unterschiedliche jüdische Identitäten Platz finden und gemeinsames Handeln möglich bleibt. Im Gespräch mit tachles attestieren die meisten Lande ein gutes Zeugnis. Er wird als pragmatischer Sachwalter beschrieben, der in seinem Amt gewachsen ist. Zugleich sorgen bei einigen seine frühen öffentlichen oder internen Äusserungen in der Causa Bührle bzw. am runden Tisch für Kopfschütteln. Für teilweises Unverständnis sorgte der Verzicht Landes ein Demonstrationsverbot in der Stadt Zürich im Kontext des Nahostkonflikts zu fordern. Anders sieht es in Sachen Personalführung aus: Lande hat mit viel Umsicht gewirkt, habe eine «gute Stimmung» im Haus etabliert und sei ein Vielarbeiter; kaum ein Tag, an dem er nicht im ICZ-Büro arbeitete. Zudem hat er die Gemeinde programmatisch wieder stärker an jüdische Traditionen heranzuführen versucht: «Mir war immer wichtig, dass die Erinnerungskultur in der ICZ hochgehalten wird», sagt Lande gegenüber tachles. Und so habe er Programme zu Jom Ha’atzmaut oder Gedenktagen wie Jom HaZikaron, Jom HaSchoa oder zum 9. November als integralen Teil seiner Präsidentschaft gesehen.
Spaltungen wegen Israel
Nun, kurz vor seinem Amtsende, präsentiert sich die Gemeinde nach aussen wahrnehmbar gespaltener als in vielen früheren Jahren. Während einst interne Fragen dominierten, entzünden sich die Auseinandersetzungen heute vor allem an der Haltung der ICZ zu Israel und zum Gaza-Krieg. Wie heftig diese Debatten geworden sind, zeigte sich in den vergangenen Monaten im Vorfeld der Präsidentenwahl: Die Kandidaturen von Noëmi van Gelder sowie dem Duo Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein haben eine der engagiertesten – und teils polarisiertesten – Diskussionen der letzten Jahre ausgelöst. Die Mobilisierung ist aussergewöhnlich hoch; seit dem 7. Oktober 2023 wird die ICZ politischer, emotionaler und öffentlicher wahrgenommen als zuvor.
Intern schwanken die Einschätzungen. Lande betont, die Gemeinde sei «nicht so gespalten, wie es von aussen wirkt». Gleichzeitig räumt er ein, dass die Debatten rund um Israel, die Politik der aktuellen israelischen Regierung und die Nachwirkungen des Gaza-Kriegs die Stimmung tiefgreifend verändert haben – und zwar bereits vor dem 7. Oktober. Eine zentrale Frage lautet: Wie klar darf oder soll eine jüdische Gemeinde Kritik an einer israelischen Regierung formulieren, ohne dass dies als illoyal gegenüber Israel interpretiert wird?
Eskalation
Wie sensibel diese Differenzierungen sind, zeigte ein Schreiben des ICZ-Vorstands vom Mai zur humanitären Lage in Gaza. Der Brief, so Lande, habe keinen politischen Kommentar darstellen sollen, sondern eine Erinnerung an zentrale jüdische Werte: «Pikuach Nefesch gilt für jedes Leben – ungeachtet von Herkunft oder Ethnie», sagte er im Frühling im Gespräch mit tachles. Teile der Gemeinde verstanden den Text dennoch als Kritik an Israel. Der Vorstand nahm das Schreiben daraufhin wieder von der Website. Die Reaktionen seien «heftig» gewesen, so Lande. Der Konflikt mache sichtbar, wie sehr der Nahostkrieg auch die Zürcher Gemeinde spaltet – politisch, kulturell und religiös.
Lande hält fest, die ICZ stehe unmissverständlich hinter Israel, doch politische Meinungsvielfalt müsse möglich bleiben – und damit auch Kritik an den jeweils amtierenden Regierungen. Das allerdings sehen nicht alle so. Die Chat- und Aktionsgruppe NAIN fordert unumwundene Solidarität mit einem Israel im Krieg ein und hat dies auch immer wieder vor und hinter den Kulissen kundgetan. Lande konstatiert: «Die ICZ ist in den letzten Jahren sicherlich nach rechts gerutscht. Sie ist religiöser geworden und in gesellschaftspolitischen Fragen auch konservativer.»
Raum für Vielfalt?
Auch der Umgang mit politisch geprägten Veranstaltungen im Gemeindesaal führt zu kontroversen Diskussionen. Die ICZ stelle Räume zur Verfügung, wenn ein relevanter Teil der Mitglieder Interesse signalisiere, trage aber nicht automatisch alle Inhalte mit. Wo Veranstaltungen zu einseitig seien oder die Gemeinde spalteten, distanziere man sich. Das Verhältnis zur Jüdischen Primar- und Sekundarschule NOAM allerdings überlässt er seiner Nachfolge. Die Schule konnte nur bedingt grösseres Gehör in der ICZ finden, das über Sicherheitsaspekte hinausgeht. Aussenpolitisch hat er die ICZ noch verstärkt im politischen Zürich oder im Rahmen europäisch-jüdischer Aktivitäten zu positionieren versucht.
Die bevorstehende Wahl hat in der Gemeinde eine ungewöhnliche Dynamik ausgelöst. Erwartet wird eine hohe Beteiligung: Bei der letzten grossen Versammlung kamen über 400 Mitglieder, jetzt rechnet Lande mit deutlich mehr. Der Ablauf folgt dem klassischen GV-Ritual mit Präsentationen der Kandidierenden, Statements von Unterstützern und anschliessender schriftlicher Wahl. Die Mobilisation der letzten Tage für die Wahlen ist ungewöhnlich gross. Beide Kandidatschaften mobilisieren mit Flyer und anderen Aktionen. Für Montagabend soll es auch einen Kinderhütedienst geben, damit Eltern mit Kindern problemlos zur Wahl gehen können. Für viele Mitglieder geht es nicht um eine Personen- sondern Ausrichtungswahl der Einheitsgemeinde.
Viele der im Wahlkampf erhobenen Vorwürfe wertet Lande als typische Zuspitzungen dieser Phase. Gegnern werde häufig etwas unterstellt, um ein negatives Bild zu erzeugen. Auch in der ICZ sei dies geschehen – etwa mit dem Vorwurf, bestimmte Kandidaten stünden zu nah an Gesher. Zusätzliche Dynamik hätten soziale Medien und Aktivisten wie Sascha Wigdorovits in die Debatte gebracht. Laut Lande betrifft diese Polarisierung jedoch nur einen kleinen, wenn auch sehr lauten Teil der Gemeinde. Er verteidigt zugleich Vorstandsmitglied Edi Rosenstein, der aufgrund der Unterzeichnung eines Gesher-Memorandums aus seiner Sicht zu Unrecht kritisiert wurde.
Strukturell stabiler
Trotz aller Auseinandersetzungen sieht Lande die ICZ strukturell stabiler als in früheren Konflikten. Die früheren Debatten über die Eigenführung des Restaurants oder über Reglementsfragen seien tiefgreifender und für die Gemeinde organisatorisch wie finanziell belastender gewesen. Die aktuelle Diskussion sei stärker politisch und emotional motiviert – laut, aber nicht existenziell.
Alles deutet darauf hin, dass diese Wahl mehr ist als die Entscheidung über ein neues Präsidium. Sie steht symbolisch für die Frage, wie sich die grösste jüdische Gemeinde der Schweiz künftig ausrichten will – innergemeindlich, gegenüber Israel und in der Öffentlichkeit. Wer die programmatischen Aussagen zwischen den beiden Kandidaturen analysiert, findet wenig abweichende Positionen und kumuliert letztlich in der Frage, wie sich die Gemeinde öffentlich zu Israel zu verhalten habe. Etwas wenig – und zugleich ein Zeichen der Zeit. Lande wird diese Debatten ab Januar aus der Distanz verfolgen und für sich in Anspruch nehmen dürfen, dass er die Gemeinde mit viel «Derech Eretz» in herausfordernden Zeiten durch die Stürme geführt hat.