Zunehmend werden Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz öffentlich ausgetragen und die Meinungen um Israels Politik in Gaza driften auseinander.
Was ist los innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz? In den vergangenen Wochen traten Konflikte zutage, die bis anhin im Hintergrund schwelten. Während die Differenzen unter Jüdinnen und Juden bisher eher in internen Whatsapp-Chats ausgetragen wurden, hat die Debatte nun die Öffentlichkeit erreicht.
Anfang März hatte Israel eine Blockade für Hilfsgüter für den Gazastreifen verhängt. Dieser Stopp der Hilfslieferungen stellt einen Wendepunkt dar. Selbst der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), Ralph Friedländer, äusserte Ende Mai in der Sendung «10 vor 10» vorsichtig Kritik und mahnte, Israel müsse die humanitäre Verantwortung im Gazastreifen besser wahrnehmen. Der SIG äussert sich in der Regel nicht öffentlich zur israelischen Politik, erachtete die humanitäre Situation in Gaza aber offenbar für Grund genug, in die Öffentlichkeit zu treten. Zeitgleich meldeten sich weitere jüdische Stimmen zu Wort, teils aus einem eigenen Bedürfnis heraus, teils aber auch aufgrund des öffentlichen Drucks, den sie spüren.
So auch die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ), die Anfang Juni ein offizielles Statement auf ihre Website stellte. Der Vorstand publizierte einen Text, weil – so der ICZ-Präsident im tachles-Interview (vgl. tachles 23/25) – es der Gemeinde ein Anliegen gewesen sei, ein Zeichen für Menschlichkeit zu setzen. Der Text erwähnte sowohl die Opfer der brutalen Terroranschläge der Hamas wie auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza. Er erzeugte in Teilen der Gemeinde derart heftige Differenzen, dass der Vorstand ihn wieder von der Website nahm. Lande sagte, es habe «sehr negative und sehr positive Reaktionen» ausgelöst. «Das hat uns gezeigt, wie gespalten und emotional die Debatte geworden ist – auch innerhalb unserer Gemeinde.» Und er gab zu bedenken, dass die ICZ als Einheitsgemeinde nun einen Weg finden müsse, mit diesen Differenzen konstruktiv umzugehen. Einen Monat später hat er dem auf Nachfrage nichts hinzuzufügen.
Zeichen innerjüdischer Vielfalt
Warum aber kommen die Differenzen aktuell so heftig zutage? Ralph Friedländer sagt zu tachles: «Unterschiedliche Einschätzungen zur Lage in Israel und Gaza gibt es nicht erst seit Kurzem.» Doch je länger der durch den 7. Oktober ausgelöste Krieg und die humanitäre Krise andauerten, desto sichtbarer würden diese Differenzen – auch, weil viele Jüdinnen und Juden das Bedürfnis hätten, sich öffentlich zu äussern. «Das ist ein legitimer Ausdruck innerjüdischer Vielfalt, wie wir sie auch in Israel selbst und weltweit erleben», so Friedländer.
Die Meinungsverschiedenheiten sind aber nicht neu, denn es gab seit dem 7. Oktober 2023 in der ICZ immer wieder Diskussionen zum Beispiel darüber, wer den Gemeindesaal nutzen darf. So gab es sogar eine Unterschriftensammlung des Verbands Never Again Is Now Switzerland (NAIN), der dagegen vorgehen wollte, dass das jüdische Forum Gescher einen Anlass in der ICZ organisierte. Interne Auseinandersetzungen wie diese werden nun lauter und gelangen an die Öffentlichkeit. Lande tritt Ende 2025 zurück, er wünscht sich, dass die ICZ ein Ort bleibt, «an dem sich unterschiedliche Menschen in ihrer jüdischen Identität wiederfinden». Aber ist er das noch oder gibt es schon eine Spaltung? Friedländer sagt: «Es gibt Spannungen – aber keine Spaltung. Und diese Spannungen manifestieren sich je nach Gemeinde unterschiedlich. In Zürich gab es intensive Diskussionen, andernorts verläuft es ruhiger. In anderen Gemeinden sind bislang kaum Spannungen öffentlich geworden, was nicht heisst, dass es sie nicht gibt. Wichtig ist: Wir nehmen die Debatten ernst, sehen aber keinen Bruch.»
Gegen Kritik an Einzelpersonen
Politische Diskussionen belasten nicht nur die Gemeinde in Zürich. Jüngst sorgte ein offener Brief des Rabbiners der Jüdischen Gemeinde Bern (JGB), Jehoshua Ahrens, für Aufsehen, den er im Alleingang in verschiedenen Medien publizierte. Darin griff er den SP-Chef Cédric Wermuth persönlich an, indem er ihm vorwarf, nichts gegen antisemitische Vorfälle an der Demo unternommen zu haben. Der persönliche und emotionale Brief ging viral, und während die einen dem Rabbiner zustimmten, wuchs das Unverständnis auf der anderen Seite. Es gingen Beschwerden bei der Gemeinde ein, und auch der SIG distanzierte sich von dem Vorgehen des Rabbiners, der inzwischen zurückgepfiffen wurde. Friedländer sagt auf Nachfrage: «Der Brief war weder mit dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde Bern noch mit dem SIG abgesprochen, insofern ist es wenig erstaunlich, dass wir in Teilen nicht derselben Meinung sind. Wir haben die verschiedenen Grenzverletzungen, die an dieser Demonstration in Bern vorgekommen sind, ebenfalls deutlich verurteilt. Was wir nicht teilen, ist die öffentliche persönliche Kritik an Einzelpersonen. Das haben wir in dieser Form auch dargelegt.» Die Einschätzungen, wie diese Demonstration und Ereignisse am Rande davon zu beurteilen seien, würden unter den jüdischen Leuten, die dort anwesend gewesen seien, divergieren. «Die Einschätzung des Berner Rabbiners über die Entwicklung der Demonstration wird von anderen geteilt, aber auch infrage gestellt oder relativiert», so der SIG-Präsident.
Rund eine Woche nach dem Vorfall hat tachles die Präsidentin der JGB, Dalia Schipper, gefragt, ob es eine Spaltung innerhalb der Gemeinde gebe. «Nein, es gibt meiner Einschätzung nach keine Spaltung, weil die Debatte um den offenen Brief eine Formfrage war und keine Inhaltsfrage.» Sie ist also der Ansicht, es sei im Zuge der Kritik um Rollen und Zuständigkeiten und weniger um die Aussagen des Briefs gegangen. Im Hinblick auf den künftigen Zusammenhalt der Gemeinde sagt Schipper: «Wir fokussieren nach wie vor auf gemeinsame konstruktive Ansätze. Unsere Gemeinsamkeit ist, dass wir eine jüdische Gemeinschaft sind und uns gegen jede Form von Antisemitismus verwehren, gleichzeitig aber dafür einstehen, dass der Dialog weiter besteht.»
Respektvoll und differenziert
Wie aber kann der Dialog konstruktiv geführt werden, ohne dass zwei Lager entstehen? Philip Bessermann, Geschäftsleiter der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, postete auf LinkedIn ein Statement zu der Causa, das vielfach geteilt und kommentiert wurde. Darin schreibt er, dass die Debatte am Thema vorbei geführt werde. Und er warnt: «Weder darf Antisemitismus als Vorwand dienen, um über die Gewalt im Nahen Osten zu schweigen, noch darf der Protest gegen diese Gewalt zur Legitimation antisemitischer Aussagen in der Schweiz werden.» Im Gespräch mit tachles bedauert er, dass es an der Demo zu antisemitischen Aussagen gekommen sei – wichtiger als Vorwürfe seien aber Lösungen. Er sagt: «Ich glaube, es ist die Verantwortung von uns allen, der Komplexität des Themas gerecht zu werden.» Sein Appell an alle Gesprächsteilnehmenden ist daher: «Äussert und verhaltet euch so präzise wie möglich und besinnt euch auf universale Werte.» Wenn es darum gehe, Kritik zu formulieren, dann sollten alle Menschen «extrem differenziert» sein und sorgsam mit Begrifflichkeit umgehen. Nur so können diskriminierende Aussagen in einer Debatte vermieden werden.Für ihn ist klar: «Die Vielfalt der Haltungen ist weder das Problem noch Konvergenz das Ziel. Dass es stark divergierende Meinungen und Haltungen gibt, ist nicht nur natürlich, sondern auch richtig so. Die, die sich jedoch unpräzis ausdrücken oder sorglos sind, mit welchen Organisationen oder Medien sie assoziiert werden, laufen Gefahr, instrumentalisiert zu werden.» Wichtig sei es, die Debatte differenziert zu führen.
Und Ralph Friedländer meint, eine Spaltung der Gemeinde könne verhindert werden, indem man im Gespräch bleibe, direkt, persönlich und mit gegenseitigem Respekt: «Gerade in emotional belasteten Zeiten ist es wichtig, Unterschiede auszuhalten, ohne das Verbindende aus dem Blick zu verlieren. Erste Gespräche über Gemeindegrenzen haben auch schon stattgefunden, mit bereits guten Resultaten. Das zeigt: Dialog wirkt, wenn er ehrlich und respektvoll geführt wird. Dabei können wir sowohl auf die jüdische Tradition als auch auf den Diskurs als Grundlage der Demokratie hinweisen.»
Ist es denn überhaupt die Aufgabe des SIG zu vermitteln? «Ja», so dessen Präsident, «wenn es gewünscht wird oder sich Fronten zu verhärten drohen. Als Dachverband sehen wir uns in der Verantwortung, Brücken zu bauen und Dialog zu fördern.» Der SIG würde aber klar Rücksicht auf die Autonomie der Gemeinden nehmen und hier auf seinen gesteckten Aufgabenrahmen aufbauen. «Vermitteln ist in dieser Hinsicht eine Form der Unterstützung», so Friedländer, der betont: «Der SIG selbst positioniert sich aber auch klar in bestimmten Themen. Wir versuchen hier das gesamte Meinungsspektrum zu berücksichtigen, müssen aber auch in Kauf nehmen, dass sich nicht alle immer abgeholt fühlen.»