Architekt Frank Gehry war ein Künstler der Architektur und kreierte mehr als den Bilbao-Effekt – geboren als Frank Goldberg ist er nun 96-jährig verstorben.
Hätte Frank Gehry sein Leben nicht der Architektur gewidmet, wäre aus ihm vielleicht ein erstklassiger Jazzmusiker geworden. Wie im Jazz leben Gehrys Bauten von oft wilden und schiefen Formen, von spontaner Eingebung und der Kunst der Improvisation. Weltweit hinterliess Gehry seine unverkennbare Handschrift und setzte den allzu harmonischen, kantigen und klaren Bauten der Moderne seine Skulpturen in Form fantastisch geformter Häuser entgegen. Jetzt ist der Star-Architekt im Alter von 96 Jahren nach einer kurzen Atemwegserkrankung in seinem Haus in Santa Monica gestorben, wie seine Mitarbeiterin Meaghan Lloyd der «Deutschen Presse-Agentur» mitteilte. Gehry wurde 1929 als Frank Goldberg geboren – ein Name, den er in den 1950er-Jahren amerikanisierte, in einer Zeit, in der viele jüdische Künstler und Intellektuelle versuchten, offener Diskriminierung auszuweichen.
Funktion folgt Form
Auf den ersten Blick wirken seine Bauten, als seien sie aus einer Parallelwelt mit anderen Schwerkraft-Gesetzen gefallen. Schimmernd und glitzernd biegen sie sich mit Titan-Hüllen in den Himmel. Gehrys postmoderne Bauweise begeisterte von Beginn an, weil sie den von der Designschule Bauhaus propagierten Gestaltungsgrundsatz «Form Follows Function» («Form folgt Funktion») ins Gegenteil verkehrte: Form muss, wie Gehry zeigte, keineswegs der Funktion folgen. Die Form selbst kann einen Bau beherrschen und für sich Wirkung entfalten. So auch beim Guggenheim-Museum (1997) im spanischen Bilbao und der Disney Concert Hall (2003) in Kalifornien, die zu Gehrys berühmtesten Projekten zählen.
Die Fragmente dieser Gebäude wirken einzeln betrachtet unorganisiert und chaotisch und folgen doch einem Rhythmus. Das spanische Guggenheim – ein dekonstruktivistisches, funkelndes Wunderwerk aus Glas, Titan und Kalkstein – ist bis heute beliebtes Touristenziel und begeistert auch Menschen, die sich sonst weniger für Architektur interessieren. Architekt Philip Johnson bezeichnete es als «das grossartigste Gebäude unserer Zeit»; wegen der vielen Kultur-Pilger war bald vom «Bilbao-Effekt» die Rede.
20 bis 30 Modelle baute Gehry für jedes Projekt eigener Aussage zufolge. Er zerknitterte Pappe oder zerriss Papier und klebte die Fetzen zusammen. Aus der ständigen Suche nach Wegen, um diese komplexen geometrischen Gebilde günstig und stabil in die Welt zu setzen, entstand Gehrys eigene Technologiefirma für Design-Software. Die erstbeste Idee zu verwenden oder nicht die bestmögliche Leistung abzuliefern, sei «nicht fair», sagte er; und der Star-Architekt riet dazu, alle Projekte gleich zu behandeln: «Egal wie klein ein Projekt auch sein mag, behandle es, als sei es das Wichtigste.»
Auch kleinere Projekte nahm er ernst: 1977 gestaltete er sein zweistöckiges Haus im traditionellen Bungalow-Stil bei Los Angeles. Dabei zerlegte er das Gebäude bis auf den Rahmen und ummantelte es mit Maschendrahtzaun und Wellblech; das Haus wirkte, als sei es explodiert. Bald baute Gehry weltweit, etwa den Fisch-Pavillon zu den Olympischen Spielen in Barcelona (1992), die Cinémathèque Française in Paris (1994) und das Tanzende Haus in Prag (1996).
Diese Projekte zählen zu den wichtigsten von Gehry: das Vitra Design Museum in Weil am Rhein (1989), das Guggenheim Museum in Bilbao (1997), der Neue Zollhof in Düsseldorf (1999), die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles (2003), Marta Herford in Herford (2005), die Fondation Louis Vuitton in Paris (2014) und The Tower in Arles (2021). Heute ist Gehrys Handschrift überall auf der Welt zu sehen: die Fondation Louis Vuitton in Paris, das Biomuseo in Panama oder das Guggenheim Museum in Abu Dhabi, das voraussichtlich im kommenden Jahr eröffnet werden soll.
Das Judentum schwingt mit
Geboren wurde Gehry 1929 als Frank Owen Goldberg im kanadischen Toronto. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer aus Polen, der Grossvater Präsident einer kleinen orthodoxen Gemeinde, in der auch Gehrys Bar Mizwa gefeiert wurde. In seiner Kindheit baute er mit der Grossmutter aus Holzabfällen kleine Häuser und Städte – ein Spiel, das seine spätere Berufung vorwegnahm.
In der jüdischen Schule zeichnete der junge Ephraim einmal Theodor Herzl; der Rabbi soll seiner Mutter daraufhin gesagt haben, aus dem Jungen könne ein Künstler werden. Obwohl Gehry sich später vom religiösen Judentum entfernte und sich als Atheist beschrieb, verwies er immer wieder auf diese frühen Erfahrungen und auf die intellektuelle Welt des Judentums, die ihn geprägt habe. Die Fragen nach Identität, Exil und Zugehörigkeit, die in vielen jüdischen Biografien eine Rolle spielen, schwingen in seinen Grenzverschiebungen zwischen Skulptur und Architektur unterschwellig mit.
Direkt für jüdische Institutionen arbeitete Gehry vergleichsweise selten, doch wenn, dann handelte es sich um symbolische Grossprojekte. In Jerusalem entwarf er im Auftrag des Simon Wiesenthal Center das Museum of Tolerance, dessen monumentale Glas- und Steinarchitektur ein Zeichen gegen Intoleranz und Fanatismus setzen sollte. Das Projekt wurde allerdings von heftigen Kontroversen um den Standort auf einem ehemaligen muslimischen Friedhof, um Massstab und Kosten begleitet; Gehry stieg 2010 aus, und eine abgespeckte Version wurde schliesslich ohne ihn realisiert.
Deutlich harmonischer verlief die Zusammenarbeit in Tel Aviv: Dort entwarf Gehry das World’s Jewish Museum, ein gross angelegtes Museum zu jüdischer Geschichte, Kreativität und zu globalen Beiträgen jüdischer Persönlichkeiten. Geplant ist ein Ensemble aus dynamisch gefalteten Volumen an der Küste, das Park, Stadt und Meer miteinander verzahnt und in mehreren Pavillons Themen wie Land, den Bund mit Israel, jüdische Erfinderinnen und Unternehmer, Wissenschaft, Kunst und Alltagskultur darstellen soll. Gehry beschrieb das Projekt als Versuch, «unsere kleine Gemeinschaft» als universale, offene Erzählung sichtbar zu machen – ein dezidiert jüdisches, zugleich aber bewusst nicht introvertiertes Haus. Realisiert wurde das Museum allerdings bis heute nicht – Israel bleibt damit ein Ort seiner markanten Entwürfe, aber ohne vollendetes Gehry-Gebäude.
Eine Synagoge konnte Gehry trotz mehrfach geäusserter Wünsche nie bauen. In Vorträgen und Interviews sprach er davon, ihn interessiere, wie sakrale Räume mit Licht, Höhe und Bewegung eine Erfahrung des Transzendenten schaffen – unabhängig von Konfession. Vielleicht näherten sich seine Museums- und Konzerthäuser dieser Idee am stärksten an: als architektonische «Kathedralen» der Kunst, in denen sich auch die jüdische Erfahrung eines kreativen, oft exilierten Minderheitenblicks spiegeln lässt.
Wie jeder grosse Künstler hatte auch Gehry Kritiker, die seine Bauten als sündhaft teure Spielereien eines Egozentrikers abtaten, die in ihm jemanden sahen, der nur eine grosse Show hinlegen wollte. 2014 konterte er diese Vorwürfe mit dem berühmten erhobenen Mittelfinger und der Bemerkung, 98 Prozent dessen, was gebaut werde, sei «pure Scheisse», ohne Sinn für Design oder Respekt für die Menschheit. So exzentrisch und ausladend wie Gehrys Bauten konnte der Mann eben manchmal auch selbst sein – und vielleicht gehört auch diese Unversöhnlichkeit mit dem Mittelmass zu jenem jüdisch geprägten Ethos, das ihn antrieb, jedes Projekt zu behandeln, als sei es das Wichtigste.
Dekonstruktivismus am Rheinknie
Ein besonderes Kapitel in Gehrys Werk bilden seine – wenigen, aber markanten – Bauten in der Schweiz. Mit dem Vitra Design Museum in Weil am Rhein, unmittelbar an der Grenze zu Basel, setzte er 1989 sein erstes grosses Zeichen in der Region: Der skulpturale, weiss verputzte Bau mit seinen ineinander verschränkten Volumen gilt als eines der frühen Hauptwerke des Dekonstruktivismus und machte den bis dahin vor allem in den USA bekannten Architekten auch im deutschsprachigen Raum einem breiteren Publikum bekannt. Der nahe gelegene Vitra-Campus entwickelte sich in der Folge zu einem internationalen Architekturpark, in dem Gehrys expressiver Bau neben Werken von Zaha Hadid, Tadao Ando und Herzog & de Meuron steht – ein Ensemble, das gerade für Schweizer Architekturinteressierte zu einem wichtigen Pilgerort geworden ist.
Ein zweites, weniger bekanntes, aber umso eindrücklicheres Bauwerk Gehrys steht im Herzen von Basel: das Gebäude an der Fabrikstrasse 15 auf dem Novartis Campus. Das dekonstruktivistische, schiffsähnliche Ensemble aus gefalteten Glasflächen, Metall und offenen Volumen beherbergt Büros, Gastronomie und ein Auditorium. Die dynamischen Linien und mehrfach gebrochenen Fassaden ergeben einen Paradebau Gherys, der auch vieles von dem vereint, was er in Bezug auf seine jüdische Herkunft so zusammenfasste: «Ich wollte einen Ort schaffen, der unsere kleine ‹Gemeinschaft› nicht als abgetrennt zeigt, sondern als Teil der Welt – kreativ, verletzlich, verbunden.»