TELEGRAMM AUS DEM KRIEG 01. Nov 2023

Wie kann man sich schon fühlen?

Ran Shmueli erfuhr von der Katastrophe am 7. Oktober während einer Reise nach Spanien.

Geschichten von Menschen im Krisengebiet in Israel, an der Front und aus der Zivilgesellschaft. In dieser neuen tachles-Kolumne porträtiert die Autorin Menschen im Krisengebiet. Heute über Ran Shmueli (60), Küchenchef aus Tel Aviv.

Ran Shmueli ist Küchenchef. Ein Unternehmer mit Leib und Seele. Ein Meister der kulinarischen Gastfreundschaft. Als er uns heute Abend die Tür zu seinem Restaurant Claro im Tel Aviver Stadtteil Sarona öffnet, hat er nur ein schmales Lächeln zur Begrüssung übrig. Noch bevor er uns zum Tisch führt, zeigt er uns die Treppe, die zum Schutzraum führt. Er weicht der höflichen Frage «Wie geht es Ihnen?» mit einer offenen Antwort aus: «Wie kann man sich jetzt schon fühlen?» Ran Shmueli, einer der berühmtesten Küchenchefs seines Landes, ist wütend und traurig.
 
Das Restaurant Claro ist seit seiner Gründung ein Ort der gastronomischen Freuden und fröhlichen Abende. Untergebracht in einem komplett renovierten Gebäude, das einst Weingut und Brennerei der deutschen Templer-Kolonie war, wurde das schöne dreistöckige Haus, das 1886 erbaut wurde, mit Geschmack und Akribie wieder aufgebaut.
Hier hat Ran Shmueli zusammen mit seinem Chefkoch Tal Feigenbaum eine Küche kreiert, die als «vom Bauernhof auf den Tisch» oder «Rustico Chic» bezeichnet wird. Ran sagt: «Wir haben mit viel Mühe die Corona-Krise überlebt und jetzt kommt diese angekündigte Katastrophe über uns.» 
 
Er ist wütend über die Unfähigkeit seiner Regierenden, mit Anstand zu regieren, und darüber, dass sie beim Schutz ihrer Bürger kläglich versagt haben, dass sie es nicht geschafft haben, die Landwirte zu schützen, ohne die kein Land leben kann. «Ohne Landwirtschaft kann es keine Zukunft geben, für kein Land. Ganz zu schweigen von Gastronomie, Tourismus und Wirtschaft, ganz einfach.»

«Meine Weggefährten» nennt Ran Shmueli die Bauern im Süden: Diejenigen, bei denen er das beste Fleisch von sorgfältig gepflegten Rindern, Milch, Sahne, Obst und Gemüse kaufte. Viele dieser Gefährten wurden getötet, wie Reuven Heinik von der Kissufim Farm, der am 7. Oktober erschossen wurde, als er seine 380 Kühe melken wollte. 
 
Landwirtschaftliche Gemeinden wurden bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nachdem die Terroristen die Menschen getötet und Dutzende von thailändischen und nepalesischen Landarbeitern entführt hatten, erschossen sie die Tiere. 
 
Mit seinem Freund Erez Gozan vom Moshav Yeshia spricht er fast jeden Tag über die Situation. Erez ist besorgt. Alle ausländischen Arbeiter haben das Land verlassen. Natürlich gibt es eine Welle von Freiwilligen, Frauen und Männer, die früh am Morgen ihre Häuser im Zentrum des Landes verlassen, um Obst und Gemüse zu ernten. Aber wer weiss, wie lange diese Menschen noch die Kraft und den Mut haben, das zu tun.
 
Ran erfuhr von der Katastrophe am 7. Oktober während einer Reise nach Spanien. Er hatte sich auf ein Abendessen bei einem Kollegen mit drei Sternen gefreut. Er sagte das Essen ab und suchte zwei Tage lang nach einem Rückflug, während er in seinem Hotelzimmer vor dem Fernseher sass und es schliesslich schaffte, zu seinem Team, seinen Freunden, seiner Familie und seinen beiden Töchtern zu gelangen.
In den ersten zehn Tagen nach seiner Rückkehr bereitet Ran Shmueli Mahlzeiten für die Soldaten vor, die an die Front zurückgekehrt sind - etwa 1400 Mahlzeiten pro Tag, Gulasch wie zu Hause, Mandel- und Zimtkuchen: Eine genussvolle Mahlzeit, wie für seine Gäste am Abend. 
Die Lieferanten haben Schwierigkeiten, die Rohstoffe zu liefern und zu verteilen, die 30 Prozent Touristen, die in sein Restaurant besuchten, haben das Land verlassen. Von den 150 Personen, die vor dem 7. Oktober bei ihm arbeiteten, sind nur noch... einige Dutzend übrig.
Zum Beispiel ein junger Kalifornier, der bei Chefkoch Shmueli in die Lehre ging. Er trägt einen Teller mit bunten Speisen und lädt den Koch zum Probieren ein. Ran bekommt wieder Farbe: Behutsam analysiert er das Gericht, bespricht die Zubereitung, schmeckt genau ab, kritisiert wohlwollend die Präsentation. Er ist wieder in seinem Element. 
Um uns herum ist das sonst komplett volle Restaurant nur mit wenigen Gästen besetzt, es wirkt fast zu ruhig. 
 
Trotz allem kehren wir zum Alltag zurück, trotz der 8000 Raketen, die seit dem 7. Oktober jeden Tag den Himmel über dem Land durchlöchert haben. «Wir, die Bürger dieses Landes, tragen die Verantwortung für unsere Arbeiter, nicht wie diese Leute, die uns regieren», sagt Ran. «Wir werden viel Mut und Einfallsreichtum brauchen, um unsere Träume nicht aufgeben zu müssen.» 
Shmuelis Traum, Restaurants in allen vier Ecken des Landes zu bauen, im Norden, Süden, an der Küste und in den Bergen von Jerusalem, um die verschiedenen Küchen dieser Regionen zu zelebrieren, scheint in weite Ferne gerückt.

Anna-Patricia Kahn