Istanbul, Juli 2024. Die Schiffe fahren in alle Richtungen – schon seit Jahrhunderten. Das Wasser trennt nicht, es verbindet. Die Brücken vereint Kontinente, Menschen und Ideen. Von den Istanbuls Hügeln erscheint die Szenerie, die Silhouetten der Moscheen, Paläste und des Häusermeers zeitlos und voller Geschichte. Am Dreieck zwischen Europa, Asien und Nahost zeigt sich rasch, dass die Diskussionen über aktuelle Krisen, Kriege oder Geopolitik wahrhaftiger werden, wenn die Perspektiven vielfältig und die Kultur der vermeintlich anderen mitgedacht wird. Nach den wochenlangen Protesten auf den Universitätscampus der USA und im westlichen Europa präsentiert sich der Campus in Istanbul subversiv äusserst politisch – doch nicht in Sachen Gaza-Krieg oder Israel, sondern in Bezug auf Erdogans Herrschaft. Auf dem ganzen Gelände hängen Fotos von Mustafa Kemal Atatürk. Der Begründer der Republik Türkei schaffte Kalifat, Sultanat, Osmanisches Reich ab, führte Laizismus, Gleichberechtigung und Säkularismus ein. Die Fotos sind Statement und Manifest für die Moderne – inzwischen ein Protest gegen das Erdogan-Regime. An diesem Morgen erinnert der Historiker İlber Ortaylı an das jüdische Erbe des Landes. Der stolze Türke ist vor allem ein klar denkender Kosmopolit und erinnert ohne Schönfärberei an die Kultur des türkischen Bosporus, wo das Fremde positiv konnotiert sei. Er spricht die Krisen und Kriege der Gegenwart offen an, den 7. Oktober ebenso wie den Gaza-Krieg. Ortaylıs Familie flüchtete wegen Vertreibungen und Pogromen gegen die Krimtataren aus der Sowjetunion nach Österreich und kam in einem Flüchtlingslager in Bregenz unter. Dort wurde İlber Ortaylı im Jahre 1947 geboren, kam mit seiner Familie in die Türkei und ist ein Universalgelehrter, ein respektierter furchtloser Grandseigneur, der sich den Mund nicht verbieten lässt. In der Türkei sind die Konsequenzen der Nahost-Kriege sichtbarer als im westlichen Europa. Millionen von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Palästina schaffen neue Realitäten, Erdogans aussenpolitische unstetige Agitationen und Ungewissheiten auch. Der Gang über den Campus, die Gespräche in den Strassencafés oder im Taxi zeigen ein Kaleidoskop von Narrativen, die seit Jahrhunderten immer wieder anders am Bosporus zusammenfinden und zu einem Amalgam von Kulturen, Ethnien und Vielfalt verschmelzen. Und was verbirgt sich hinter alle dem, wenn es um Israel und den aktuellen Krieg geht? Geht von dieser heterogenen Gesellschaft unisono Ablehnung, Judenhass, Antizionismus aus? Ist das Thema der Trigger für die Eskalation, für fanatische Reaktionen, etwa von Aktivisten? Was passiert, wenn man an der Oberfläche kratzt? Ein türkischer Student meint, der 7. Oktober hätte so nicht stattgefunden. Er sollte an diesem Tag die einzige konspirative Stimme bleiben. Die permanente Erdogan-Propaganda gegen Israel dringt durch und ist bei den Menschen zugleich weit weg. Der Gaza-Krieg spielt in ihrem Alltag eine kleinere Rolle als der Ukraine-Krieg, der Bürgerkrieg in Syrien oder die Konflikte in den angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken. In der Aula auf dem Campus diskutieren Studenten, Diplomaten und Professoren die aktuellen politischen und Klimakrisen mit einer engagierten Ernsthaftigkeit, die in Erinnerung ruft, was in den letzten Monaten im Diskurs zum Gaza-Krieg im westlichen Europa, den USA oder mitunter im sogenannten globalen Süden gefehlt hat: der gesunde Blick über die Grenzen, die menschliche Haltung und Empathie für die anderen. Die Gespräche eskalieren nicht, der Gaza-Krieg wird nicht zur Projektionsfläche oder zum Ventil des Judenhasses. Warum ist das nicht so? Wäre das in der türkischen Provinz anders? Oder ist der instrumentalisierte Gaza-Krieg letztlich Symptom einer degenerierten Gesellschaft geworden? Irgendwo zwischen allem liegen die vielen Wahrheiten, keine von ihnen wird absolut, aber vieles auf einmal lösbar sein. Ob die Menschheitsgeschichte blutiges Versagen oder zivilisatorische Errungenschaft werden wird, entscheidet sich gerade in diesen Wochen der Herausforderungen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
19. Jul 2024
Perspektiven des Grenzenlosen
Yves Kugelmann