das jüdische logbuch 05. Apr 2024

Bücher und Menschen zum Leben

Jerusalem, April 2024. Die Israelische Nationalbibliothek (NBI) ist eine Institution von internationalem Rang. Sie vereint das geistige und kulturelle Erbe Israels. Handschriften, Dokumente und Objekte aus vielen Jahrhunderten, darunter zentrale hebräische, jüdische, arabische und weitere Schriften, viele entstanden in der Region, zeigen ein kulturelles Erbe aus Judentum, Islam, Christentum, das ausserhalb des Hauses im Kontext der Verhärtung für Staunen sorgen mag. Ebenso zentral sind Sammlungen aus dem 20. Jahrhundert, wie etwa Schriften von Franz Kafka oder Tagebücher von Max Brod. Im Oktober hätte der von den Basler Architekten konzipierte Neubau der NBI mit einer Ausstellung der Sammlung Braginsky (vgl. S. 22) eröffnet werden sollen. Die Ausstellung zeigt einen Dialog zwischen der Schweizer Sammlung und jener der NBI – eine Art Dialog zwischen Kulturen, Kontinenten, Kontexten durch Bücher. Der 7. Oktober kam dazwischen und nun öffnet sich das Haus langsam. Die Architektur vereint eindrücklich den Raum Jerusalem mit feinen Materialien aus viel Stein und Holz und vereint ebenso Epochen für ein Gebäude, in dem die Zeit still zu stehen scheint und die Gegenwart nicht nach innen dringen lässt, inspiriert durch Bücher, welche die vielen Studenten an diesem Morgen studieren. Die Prunkstücke sind der sichtbare Innenraum der Bibliothek und unterirdisch ein automatisiertes Archiv für rund fünf Millionen Bücher. Die NBI liegt unterhalb der Knesset, erreichbar über die Kaplan-Strasse. Dort sind auch an diesem Tage Hunderte von Demonstranten zu sehen. Inzwischen säumen rund 200 Zelte die Strasse, flankiert von Informationsständen. Die Stimmung ist locker. Die Demonstranten informieren, sprechen Passanten an. Aus der Ferne sind Sprechchöre der Menschen zu hören, die vor der Knesset protestieren. Es geht um die Freilassung der Geiseln, den Gaza-Krieg, um Demokratie-Fragen und vor allem Protest gegen Premier Netanyahu. Wenige Tage davor sind Zehntausende auf die Strassen gegangen. Vor der NBI versammeln sich Schulklassen. Im pädagogischen Zentrum finden sich arabische Gymnasiasten für eine Tagung ein. Jüdische israelische Schüler warten auf Einlass in die Dauerausstellung und am unteren Eingang warten ultraorthodoxe Besucher auf Einlass für einen Workshop. Im rot gestalteten Leseraum der NBI sitzen Forscherinnen und Forscher. Nach langer Ruhe ist der Betrieb in vollem Gange. Wie in einem Bienenhaus strömen Menschen rein und raus. Vom Krieg ist kaum etwas zu spüren. Die Jugendlichen folgen fasziniert den Ausführungen der Guides. Viel Haptik, wenig Digitales. Die alten Bücher und Handschriften in der Dauerausstellung und jene in der Sammlung Braginsky versetzen die Menschen in Staunen. Am unteren Eingang finden sich 134 Stühle mit 134 Fotos der Geiseln in der Gewalt der Hamas. Zu jeder Geisel findet sich ein Buch auf dem Stuhl, das die Kuratorin zusammen mit den Familien ausgewählt hat. Bücher und Menschen vereint als «Schrei nach Leben», wie einst Martin Gray seine Biographie nannte. Rachel führt an diesem Tag durchs Haus. Sie ist erleichtert, dass die NBI nun Schritt für Schritt geöffnet wird. Sie verbringt täglich 12 Stunden im Büro im vierten Stock der Bibliothek und hat Tränen in den Augen. Jahrelang hat sie an dieser Ausstellung gearbeitet und zum ersten mal ist sie im Raum mit den Büchern in den Vitrinen. Schriften von Maimonides, verzierte Eheverträge aus Gemeiden von Europa bis Indien, illustrierten Esther-Rollen, darunter die älteste datierte und signierte Megillat Esther, die 1564 von einer Venezianerin kopiert wurde. Wundersam illuminierte Bücher und Schriftrollen, in denen sich Kulturen begegnen und teils vereinen. Die Kinder aus den Schulklassen stellen unentwegt Fragen und kleben regelrecht mit strahlenden Augen an den Vitrinen. Das «alte» Israel ist in der NBI lebendig. Menschen aus verschiedenen Kulturen begegnen sich, Hebräisch, Arabisch, Englisch und viel Französisch ist an diesem Tag zu hören. Da der Kafka-Nachlassverwalter, der gerade eine Gruppe von europäischen Besuchern durchs Haus führt, dort eine Delegation von Wissenschaftlern aus den USA, die Musikpartituren anschauen. Vor dem Eingang der NBI laufen Menschen mit Israel-Fahnen und Plakaten zur Demonstration, vertieft in Gespräche. Dann folgt ein religiöser Mann mit Megaphon und wirbt für Demokratie durch Thora. Auf der anderen Strassenseite sind zwei ältere Damen unter einem Sonnenschirm in eine Diskussion vertieft über die Frage, wo und wie sie sich in der Kaplan-Strasse abseits der Absperrungen positionieren können. Dahinter steht eine Familie mit Israel-Fahnen und empfängt die ankommenden Besucher mit Liedern. Also ob das neu gebaute Haus der Nationalbibliothek immer schon hier gestanden hätte, fügt es sich ein zwischen Parlament und Israel-Museum, mit aller Symbolik, die in diesen Tagen nochmals ganz anders konnotiert ist. Beim Abschied sagt Rachel vor der Installation in Erinnerung an die Geiseln und die vor den Fotos liegenden Büchern: «Ich hoffe, dass bald alle ihr Buch lesen werden können.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann