Der österreichische Komponist und Dirigent Robert Stolz, der mehrfach Juden zur Flucht aus Deutschland verhalf, dirigierte Anfang 1963 erstmals in Israel und brach dabei ein Tabu – wofür ihm Shimon Peres dankt.
Als Robert Stolz (1880–1975) Mitte der 1920er Jahre vor seinen Gläubigern von Wien nach Berlin floh, lagen einige Triumphe als Komponist von Wiener Liedern bereits hinter ihm, aber auch schon drei Scheidungen und ein Bankrott. Er wähnte sich am Tiefpunkt seines Lebens. Noch ahnte er nicht, dass seine Karriere, die ihm mit Liedern wie «Im Prater blüh’n wieder die Bäume» schon glänzende Erfolge beschert hatte, in Berlin erst richtig Fahrt aufnehmen würde. Denn Stolz traf dort rechtzeitig ein, um die um 1928 beginnende Tonfilmära mitzuprägen. Gleich seine erste Filmmusik, komponiert für «Zwei Herzen im Dreivierteltakt», wurde 1930 ein Welterfolg. Stolz baute die Liedeinlagen aus dem Kassenschlager zu einer abendfüllenden Operette aus, die im September 1933 am Stadttheater Zürich uraufgeführt wurde. Im Vorjahr hatte seine «Venus im Pelz» im selben Haus ihren Erstauftritt gehabt, und 1934 würde Stolz mit seinem Stück «Grüezi» ebenfalls dort Premiere feiern – die Schweiz war für ihn ein gutes Pflaster und ist eng mit seiner Karriere verknüpft.
Zur Welt gekommen war Robert Stolz im August 1880 in Graz. Seine Mutter war Pianistin, sein Vater Direktor des Konservatoriums der Stadt. Als Musikersohn begegnete der kleine Robert noch dem Komponisten Brahms und durfte sich auch Walzerkönig Johann Strauss vorstellen, der dem Jungen zur Unterhaltungsmusik geraten habe. Schon ab 1901 brachte Robert Stolz eigene Singspiele heraus, 1907 wurde er nach Wien engagiert, wo er etwa Operetten vom grossen Franz Lehár dirigierte. Auch als Komponist reüssierte er früh. Zu dem besagten Bankrott kam es, als Stolz obendrein ein Theater übernahm und nach nur einer Spielzeit schliessen musste.
Einsatz für jüdische Kollegen
Als Tonfilmmusiker in Berlin arbeitete Robert Stolz mit den besten (jüdischen) Textern, Sängern und Schauspielern seiner Zeit, darunter das Traumpaar des Ufa-Films Marta Eggerth und Jan Kiepura, die später den Broadway eroberten. Obwohl der beliebte Robert Stolz ab 1933 auch von den neuen Kulturfunktionären heftig umworben wurde, liess er sich nicht vereinnahmen. Kunst und Musik, meinte er, sollten sich von Politik fernhalten. Seine Antwort auf die Zeitenwende: Stolz ging 1936 zurück nach Wien. Weiterhin vergab der katholische Musiker Aufträge an seine jüdischen Texter, bemäntelte aber deren Urheberschaft und Mitwirkung. Dadurch konnte er weiter komponieren, und seine jüdischen Freunde konnten inkognito Geld verdienen. Eines Tages sagte ihm jemand, es gebe da ein paar jüdische Personen, die ausser Landes gebracht werden müssten. Ob er mit seinem grossen Automobil helfen könnte? Konnte er. Zwischen 1933 und 1938 fungierte Robert Stolz mehrfach als Menschenschmuggler und nutzte dafür die regelmässigen Touren zwischen seinen Wirkungsorten Berlin und Wien. Stolz brachte sich dadurch in Gefahr, und seinen Chauffeur auch. Doch seine Prominenz und das Hakenkreuz auf dem Kühler des Wagens, meinte Stolz später, bewahrten die Insassen vor genauer Kontrolle. Mit dem «Anschluss» Österreichs nahm der Komponist endgültig Abschied von seiner Heimat. Hals über Kopf floh er nach Zürich. Es war durchgesickert, dass er jüdische Deutsche aus Berlin geschleust hatte, doch in letzter Minute wurde er vor einer bevorstehenden Verhaftung gewarnt. Von Zürich aus fuhr Stolz weiter nach Paris. Allein, just war seine vierte Frau mit einem anderen durchgebrannt. Verlassen, beinahe pleite – seine Lage war desolat. Das Auf und Ab in seinem Leben folgte damals einem gewissen Muster. Einmal habe er dazu sogar Sigmund Freud in Wien aufgesucht, schrieb der Komponist später in seinen Erinnerungen. So richtig geholfen, das wird zwischen den Zeilen deutlich, hatte die Konsultation ihm aber offenbar nicht. In Paris gesellte Robert Stolz sich zu einer Freundesrunde im Café Cristal in der Rue Marignan. Die Clique hatte sich um den aus Berlin exilierten ungarischen Komponistenkollegen Paul Abraham versammelt. Abraham machte den Neuen in der Runde am Tisch mit einer jungen Dame namens Yvonne Louise Ulrich (1912–2004) bekannt, die, wie Abraham erklärte, von allen nur Einzi genannt werde, weil sie die Einzige sei, auf deren Hilfe man als Emigrant immer zählen könne. Eine Frau, die Papiere, Aufenthaltsbewilligungen und Geld für das Nötigste beschaffen konnte. Yvonne beziehungsweise Einzi war, so Stefan Fey 2007 in seinem Robert-Stolz-Beitrag im «Lexikon verfolgter Musiker», eine unter dem Namen Bermann 1912 in Warschau geborene polnische Jüdin. Nach Einzis eigenen (späteren) Angaben war sie die Tochter eines Schweizer Philosophen und habe mit ihrer Familie vornehmlich in der französischen Schweiz gelebt. Als sie Robert Stolz in Paris kennenlernte, weilte sie, damals verheiratet mit einem britischen Geschäftsmann, mit ihrer kleinen Tochter Clarissa (die am 12. März 1938, dem Tag des «Anschlusses», in London zur Welt gekommen war) seit 1939 in Paris, um an der Sorbonne Jura zu studieren.
Karriere in den USA
Im November 1939 wurde der Österreicher Stolz als «feindlicher Ausländer» interniert. Nun machte die energische Einzi ihrem Ruf alle Ehre. Sie habe, so beschrieb sie es später, Geld von ihrem Konto abgehoben, sei zum Élysée-Palast gefahren und tatsächlich vorgelassen worden – und habe den Internierten freigekauft. In ihrer Wohnung pflegte sie den fast 60-Jährigen, der sich im Lager eine Lungenentzündung zugezogen hatte, gesund und besorgte Papiere für die Emigration in die USA. Wie nebenbei fädelte die junge Frau zudem einen Vertrag über die US-Verfilmung seines Stückes «Frühjahrsparade» ein. Einzis Deal öffnete Türen und erleichterte die Einreise und den Neuanfang in den USA. Schon 1941 erhielt Robert Stolz für den Song «Waltzing in the Clouds» seine erste Oscar-Nominierung. In New York traf er wieder mit Einzi und ihrem Kind zusammen, bald waren die drei eine Familie. Auch beruflich fügte sich alles. Robert Stolz schrieb weitere Operetten, Filmmusik und Broadway-Musicals, war im Radio zu hören, eroberte das Publikum mit seinen Konzerten «A Night in Vienna» und wurde 1944 abermals für den Oscar nominiert. New York und Hollywood brachten ihm ein Wiedersehen mit Freunden wie Max Reinhardt und über die Jahre neue Begegnungen etwa mit Igor Strawinsky, Franklin D. Roosevelt und Filmstars wie Marilyn Monroe, Fred Astaire, Clark Gable, Judy Garland und Charlie Chaplin. Auch viele Komponistenkollegen traf er wieder. Der Zufall wollte es, dass Emmerich Kálmán und Robert Stolz in den 40er Jahren sogar im selben Apartmenthaus, Central Park West 50, wohnten. Im April 1946 konnten Robert und Einzi Stolz, von ihren jeweiligen Ehepartnern nun offiziell geschieden, in New York endlich heiraten. Danach bereiteten sie ihre Rückkehr vor. Weil der 66-jährige Stolz Heimweh hatte, zog es das Paar im Herbst 1946 wieder nach Österreich. Mit Gerichtsvollziehern und anderem Ungemach verlief der Neustart in Wien zwar holprig, und mancher begegnete dem Zurückgekehrten – warum war er überhaupt emigriert? – mit Vorbehalt. Doch auf ihn wartete, auch dank Einzis Managertalent, ein riesiges Comeback.
Deutsche Lieder in Israel
Die Rückkehr nach Europa war der Auftakt zu einer fulminanten Alterskarriere. Bis zum Ende seines Lebens blieb Robert Stolz in Bühnenstücken, Filmmusiken und als Dirigent präsent und wurde auf internationalen Tourneen gefeiert. Im Januar 1963 dirigierte Stolz erstmals eine «Night in Vienna» auf israelischem Boden. Die Solisten Adele Leigh und Nigel Douglas waren britisch, beide am Opernhaus Zürich engagiert, beide konnten Deutsch, und auf dem Programm standen Wiener Lieder, Operetten, Walzer. Die Order der Veranstalter aber lautete trotzdem: englisch singen. Das widerstrebte dem Komponisten. Stolz fand, «The woods of Vienna are calling» sei nicht dasselbe wie «Im Prater blüh‘n wieder die Bäume». Und er, sich seines Weltruhms bewusst, erlaubte sich Chuzpe: Robert Stolz setzte, gemeinsam mit einer entschiedenen Einzi, den Gastgebern gegenüber durch, dass seine Lieder auf Deutsch gesungen wurden. Damit brach er ein Tabu – und das Eis. Das Publikum war ergriffen. Staunte. Weinte. Applaudierte. Die nostalgischen deutschen Lieder mit Wiener Schmäh gaben vielen ein Stück von ihrer Vergangenheit, ihren Wurzeln wieder. «Von jenem Tag an wurde in der Öffentlichkeit und auf israelischen Bühnen wieder Deutsch gesprochen und gesungen. Das Ereignis machte überall auf der Welt Schlagzeilen: ‹Robert Stolz baut Versöhnungsbrücken zwischen Israel und Deutschland.›» So kommentierten Robert und Einzi Stolz den historischen Moment später in ihren Memoiren. In den ihm verbleibenden zwölf Lebensjahren stand der Gefeierte für viele weitere Auftritte am Pult. Er spielte Platten ein, machte Gala-Shows und Radioproduktionen, brachte mit Einzi seine Memoiren «Servus, du» zu Papier, schrieb Filmmusiken und komponierte für die beliebten Eisrevuen. Den Frühling 1975 verbrachte das Ehepaar in Lugano. Stolz litt an einer Erkältung, fühlte sich aber Mitte Juni wieder genesen genug, um wie geplant ab 25. Juni in Berlin Schallplattenaufnahmen zu dirigieren. Der 94-Jährige freute sich auf die Arbeit mit dem Berliner Symphonikern. Doch die Strapazen im Studio waren zu gross, gleich nach den Aufnahmen wurde er in ein Berliner Krankenhaus gebracht. Dort starb er am 27. Juni. Anfang Juli wurde Robert Stolz unter grosser Anteilnahme in Wien in einem Ehrengrab beigesetzt. Seine Musik war in der Oper erklungen, in Hollywood, auf dem Broadway und auf zahlreichen Bühnen der Welt, wurde auf Tonträgern millionenfach konserviert. Stolz hatte mit Granden aus der k. und k. Zeit und der Weimarer Republik gearbeitet, mit US-Stars, mit Nachkriegspublikumslieblingen. Ein Jahrhundertmusiker. Mit seinem Ableben begann für Einzi ein jahrzehntelanges Wirken als Künstlerwitwe mit Mission. Bis zu ihrem Tod 2004 in Wien setzte sie sich für seinen Nachruhm ein und hielt sein Werk präsent, vollendete das Memoiren-Buch und trat im Fernsehen auf. Einzi wurde selbst zu einer Berühmtheit, über die die Magazine schrieben. Dass sie jüdisch war, spielte in den Berichten keine Rolle. Die ihrem Mann zuerkannten Würdigungen sind so zahlreich wie hochkarätig. Er war Ehrenbürger von Wien und Graz, bekam ein Denkmal und Dutzende Auszeichnungen, darunter 1970 die Ehrenmedaille der Stadt Jerusalem. Zudem hat Einzis Tochter Clarissa Henry – Schauspielerin, Autorin und Filmemacherin – ihrem Vater eine wunderbare Filmdokumentation («Robert Stolz. Musik für Generationen», 2020) gewidmet. Der «letzte grosse Meister der Operette» hinterliess eine Fülle von Orchester- und Bühnenwerken, um die 60 Operetten und Lustspiele, 100 Filmmusiken, 2000 Lieder und Schlager. Der Komponist, dessen Todestag sich Ende Juni zum 50. Mal jährt, erlebte seine Melodien auch selbst als Instrument der Versöhnung. Nach dem Israel-Konzert hatte Shimon Peres ihm gedankt. Robert Stolz habe für die Menschen im Land «getan, was Tausende von Psychoanalytikern und Psychologen nicht erreichen könnten», so der spätere Staatspräsident. «Sie haben uns von einem Trauma befreit.»