Eine der einflussreichsten antifaschistischen und pazifistischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts war die Jüdin Anette Reiling – die heute immer noch unter dem Pseudonym Anna Seghers bekannt ist.
Im Jahr 1928 erschien im Gustav-Kiepenheuer-Verlag in Potsdam ein kleines Buch, das sofort grosses Interesse weckte. «Aufstand der Fischer von St. Barbara» erzählte die ungewöhnliche Geschichte eines von Hunger, Elend und Not geprägten Fischerdorfs. Ein unerwarteter Held erhebt sich und führt den Protest an, der eine Lohnerhöhung fordert. Es folgten Verweigerung, stumme, verbissene Resistenz, Aufstand, Angriff, Niederlage und bittere Resignation. Der Stil dieses Buches war auffällig: eine eigenartige, überaus kräftige innere Sprache mit knappen, nur vage angedeuteten Sätzen von höchster Prägnanz, deren Kunst im Ausdruck des Notwendigen wie im Andeuten des Hintergründigen liegt.
Der Ruhm kam schnell, ebenso wie der angesehene deutsche Kleist-Preis. Dies erweckte natürlich Interesse für seinen Autor. Die Neugier stieg, da auf dem Bucheinband lediglich der Name «Seghers» zu lesen war. Die Sensation wurde noch grösser, als bekannt wurde, dass Seghers kein Autor, sondern eine Autorin war – und zwar eine sehr junge. Mit diesem Buch veröffentlichte Anna Seghers (1900-1983) ihren Erstlingsroman und wurde im Alter von nur 28 Jahren über Nacht zum Literaturstar. Sie war eine von nur zwei Frauen, die bis dahin diese renommierte Auszeichnung der deutschen Literatur erhalten hatten.
Eine «jüdische» Überraschung
Die Begeisterung war gross – allerdings nicht bei allen. Das hatte weder mit dem Roman noch mit dem Talent der jungen Autorin zu tun. Auch dass sie eine Frau war, war nicht das Hauptproblem. Das Problem war vielmehr, dass Anna Seghers ein Pseudonym war und die Autorin in Wirklichkeit Anette «Netty» Reiling hiess, eine Jüdin aus Mainz.
Die Geschichte hinter dem Pseudonym wird meist wie folgt erzählt: Reiling studierte Kunstgeschichte an den Universitäten Köln und Heidelberg. In ihrer Dissertation befasste sie sich mit dem Thema «Jude und Judentum im Werk Rembrandts». Im Umfeld Rembrandts stiess sie auch auf das Pseudonym, das sie fortan als Schriftstellerin tragen wollte. Hercules Seghers war ein Kupferstecher und Zeitgenosse Rembrandts. «Dieser Name ist so ungewöhnlich, der musste auffallen, wenn er plötzlich über einer Erzählung in der Zeitung erscheint. Andererseits könnte ich mich auch hinter ihm verbergen.» Nach ihm nannte sich Annette Reiling fortan Anna Seghers. Bis heute ist sie eher unter ihrem Pseudonym als unter ihrem Geburtsnamen bekannt.
Zielscheibe von Propoganda
Für die Antisemiten war das damals keine «gute Ausrede». Sie waren sich sicher, dass die Jüdin dies absichtlich getan hatte, um ihre Herkunft zu verbergen und den angesehenen deutschen Literaturpreis zu gewinnen. Die nationalsozialistische Zeitung «Völkischer Beobachter», die damals noch von Adolf Hitler herausgegeben wurde, verurteilte die Verleihung des Preises an die wohlhabende Jüdin, Tochter des reichen Kunsthändlers Isidor Reiling, scharf. Fälschlicherweise wurde berichtet, Alfred Kerr (ebenfalls Jude) habe die Entscheidung getroffen, Seghers den Preis zu geben, um die bereits wohlhabende Jüdin mit mehr deutschem Geld und Ruhm zu belohnen, anstatt ihn einem «echten Deutschen» zu geben, der ihn tatsächlich gebraucht hätte. Auch der Inhalt des Buches in Bezug auf die Autorin wurde in der Zeitung zynisch kritisiert: «(…) die Tochter eines reichen Mannes hat des Lebens furchtbaren Ernst, Hunger und Obdachlosigkeit niemals kennengelernt. Und nun schüttet ihr die Kleist-Gesellschaft in ihrem Reichtum noch einige tausend Mark in den Schoss!»
Dies war die erste, aber nicht die letzte Begegnung Anna Seghers’ mit den Nationalsozialisten. Die Autorin, deren 125. Geburtstag wir aktuell ehren, zählt zu den einflussreichsten antifaschistischen und pazifistischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Auch ihre zahlreichen späteren Werke wie «Das siebte Kreuz» und «Der Ausflug der toten Mädchen» inspirierten Widerstand, Aufstand und Resistenz. Dafür musste sie aus Nazi-Deutschland fliehen, doch sie hat sich einen Ehrenplatz unter den bedeutendsten Exilautorinnen erarbeitet.