In einer Sonderausstellung erzählt die Nationalbibliothek Israels die Geschichten tausender sephardisch-mizrachischer Juden, die aus ihren arabischen Heimatländern und aus dem Iran vertrieben wurden.
Der Nahostkonflikt hat zwei Flüchtlingsgruppen hervorgebracht, eine palästinensische und eine jüdische, letztere wird oft übersehen oder gar ignoriert. Seit über 2500 Jahren – somit lange vor dem Aufstieg des Islams – existierten Juden und jüdische Gemeinden im gesamten Nahen Osten und Nordafrika. Eine kontinuierliche jüdische Präsenz lässt sich in einigen Fällen um mehr als 1000 Jahre vor den arabischen Eroberungen nachweisen. Am Vorabend der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 lebten fast eine Million Juden und Jüdinnen in arabischen Ländern und im Iran. Heute sind es nur noch wenige Zehntausend.
Dieser denkwürdige Tag ebnete den Weg zu einem unabhängigen Staat Israel, löste aber auch eine Welle der Gewalt und Verfolgung gegen jüdische Gemeinden in arabischen Ländern und im Iran aus, die letztendlich zur Massenflucht von einer Million Flüchtlingen, zum Verlust von Eigentum und zu einem kollektiven, generationenübergreifenden Trauma führte.
Massenvertreibung
Der UN-Teilungsplan für Palästina, angenommen am 29. November 1947 als Resolution 181, und in der Folge die Gründung des Staates Israel, trafen auf heftige Reaktionen in der arabisch-muslimischen Welt. Im Jemen verübten muslimische Randalierer in Aden ein blutiges Pogrom, bei dem 87 Juden getötet wurden. 1948 starben mehr als 70 Juden durch Bombenanschläge im jüdischen Viertel von Kairo. Die Ausgrenzung und eine Welle der Gewalt und Verfolgung gegen Juden setzten sich im 20. Jahrhundert fort und gipfelten durch Massenvertreibungen in der Flucht der jüdischen Bevölkerung aus dem gesamten Nahen Osten und Nordafrika. Das Ausmass dieser Vertreibung wird oft übersehen oder gar ignoriert. Von fast einer Million Juden, die 1948 in zehn arabischen Ländern und im Iran lebten, wurden rund 99 Prozent entwurzelt und zur Umsiedlung gezwungen. Diese jüdischen Flüchtlinge liessen ihr gesamtes bisheriges Leben zurück: Freunde, Kultur und Traditionen sowie all ihren Besitz.
In einigen Fällen wurden ganze Gemeinden in spektakulären Rettungsaktionen wie der Operation Magic Carpet, der Luftbrücke jemenitischer Juden und der Operation Ezra und Nehemia, Luftbrücken irakischer Juden nach Israel umgesiedelt.
Eine Anerkennung des Traumas und des Verlustes
Trotz der Erfahrungen von Gewalt, Verlust ihrer Heimat und daraus resultierender Traumatisierung wurde ihre Geschichte lange an den Rand der israelischen Geschichtsschreibung gedrängt. An das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge erinnerte in diesem September Dr. Henry Green, Professor für Judaistik und Religionswissenschaft an der Universität Miami, Gründungsdirektor des Jüdischen Museums von Florida sowie Gründer und Vorsitzender von Sephardi Voices, vor dem UN-Menschenrechtsrat: «1948 lebten fast eine Million Juden in zehn arabischen Ländern und im Iran. Heute sind es weniger als 12 000. Was folgte, war nicht nur eine Massenflucht, sondern die Auslöschung jüdischer Gemeinden.»
Der «Tag der Flüchtlinge» ist der israelische Nationalfeiertag zum Gedenken an die über 850 000 jüdischen Flüchtlinge. Basierend auf einem Beschluss der Knesset im Jahr 2014, wird er jährlich am 30. November begangen, dem Datum, das den Beginn der Feindseligkeiten gegen Juden und Jüdinnen in Nordafrika, Ländern des Nahen Ostens und dem Iran markiert. Offiziell lautet der Gedenktag «Tag zum Gedenken an die Abreise und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran». Geläufiger sind in Israel «Jom Haplitim» («Tag der Flüchtlinge») sowie «Jom Hagirusch» («Tag der Vertreibung»). Jom Haplitim wurde ins Leben gerufen, um das Trauma, den Schmerz über den Verlust der Heimat und die Vertreibung anzuerkennen und um das reiche kulturelle Erbe der sephardischen und mizrachischen Flüchtlinge zu würdigen und zu bewahren.
In diesem Jahr lud die Nationalbibliothek in Israel (NLI) am 30. November anlässlich des Gedenktages an die Vertreibung der Juden aus arabischen Ländern und dem Iran zu einem Symposium ein, präsentierte eine Sonderausstellung und feierte die Aufnahme des Zeugnisarchivs von Sephardi Voices in ihre Sammlung. Dr. Nimrod Gaatone, Leiter des Teams für sephardisches jüdisches Erbe, führte zu Beginn der Feierlichkeiten die zahlreichen Gäste kenntnisreich durch die Sonderausstellung und erzählte zu jedem Exponat die jeweilige Geschichte, wie etwa die eines Beschwerdebriefs über einen Rabbiner, der mehrere Ehefrauen hatte – gemäss der Tradition seines islamischen Umfeldes – dies aber in seiner jüdischen Gemeinde auf Ablehnung stiess. Ein knallrotes Gewand und auffälliger Schmuck sorgten für Verwunderung. Laut Dr. Gaatones Recherchen gehörte das Kostüm jüdischen Zwillingsschwestern, die sich arabische Vornamen gegeben hatten, um als Bauchtänzerinnen in Ägypten akzeptiert zu werden, und als Tänzerinnen in der arabischen Welt eine bemerkenswerte Karriere machten.
Sephardische Stimmen
Orly Simon ist Leiterin der technischen Dienste der Nationalbibliothek und hat einen grossen Anteil daran, dass Wissenslücken über sephardische und mizrachische Gemeinden geschlossen werden. Auch ihre Familie wurde vertrieben. «Meine Eltern wurden in Marokko geboren, es ist Teil meiner Identität. Als ich fünfzig Jahre alt wurde und gefühlt im Leben angekommen war, begann ich, Fragen zu meinen Wurzeln zu stellen, mich mehr für meine Herkunft zu interessieren, und wurde mir meiner eigenen grossen Wissenslücken bewusst. Ich begann privat und auch beruflich zu recherchieren. Seit zehn Jahren arbeiten wir daran, die Wissenslücken zu schliessen. Die Nationalbibliothek bewahrt und erzählt die Geschichten aller jüdischen Gemeinden. Wir erfahren grosses Interesse und positives Feedback zu unserem Projekt.»
Das internationale Kulturerbe-Projekt Sephardi Voices widmet sich der Dokumentation der bislang nicht erzählten Geschichten. Es ist das erste umfassende digitale Archiv, das die Lebensgeschichten von Juden in islamischen Ländern dokumentiert und bewahrt. Sephardi Voices wurde im Jahr 2005 von Dr. Henry Green initiiert, um die Erinnerungen, Traditionen und das kulturelle Erbe sephardischer und mizrachischer Juden und Jüdinnen festzuhalten, deren Stimmen in der modernen jüdischen Geschichte oft übersehen wurden.
Das digitale Archiv umfasst 450 Interviews mit Betroffenen in Englisch, Hebräisch, Judäo-Arabisch, Französisch und Italienisch sowie Porträts, Dokumente und Fotografien, die die Lebensgeschichten der weltweiten sephardisch-mizrachischen Gemeinschaft eindrucksvoll dokumentieren. In ihren Zeugnissen beschreiben die Interviewpartner das reiche jüdische Gemeindeleben, dem sie einst angehörten, sprechen über ihren kulturellen Hintergrund und ihre Traditionen sowie über das soziale Gefüge, in dem sie einst lebten. Die Betroffenen berichten von ihrer Vertreibung, Abschieden, ihren Erfahrungen bei der Anpassung an neue Länder und ihrem tiefen Schmerz über den Verlust der verlorenen Gemeinden in ihren arabischen Ursprungsländern und im Iran.
Sephardi Voices gibt einer Million Juden eine Stimme, die aus ihren Häusern, Vierteln und ihrer angestammten Heimat in Nordafrika, dem Nahen Osten und dem Iran vertrieben wurden. Das digitale Archiv kann über die Website der Nationalbibliothek Israels besucht werden. Die digitale Sammlung entstand in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern unter der Schirmherrschaft der Organisation Sephardi Voices.
Erinnerungen an Freude wie auch Trauma
Als Zeitzeugen sprachen am 30. November die jüdischen Flüchtlinge Levana Zamir, geboren in Ägypten, der aus dem Libanon stammende Dr. Edy Cohen und Edwin Shuker mit irakischen Wurzeln. Eindrucksvoll und in bewegenden Worten teilten sie mit dem Publikum ihre Erinnerungen an ihre arabischen Heimatländer, schilderten ihre Verfolgung, Flucht und schmerzhaften Erlebnisse und ihren schweren Neubeginn in Israel. Edy Cohen drückte das Trauma seiner Vertreibung wie folgt aus: «Ich fühle mich wie ein Flüchtling. Uns Juden aus arabischen Ländern wird die reiche Kultur von dreitausend Jahren vorenthalten. Sie wird im Land nicht erwähnt. Ich bin Israeli, aber ich habe eine andere Identität. Meine Identität wurde gelöscht.» Edy Cohen verliess den Libanon 1989.
Die Feierlichkeiten wurden musikalisch von Eliyahu Dagmi und Rabbiner David Menachem begleitet. Dagmi spielt Saz, ein Saiteninstrument aus der Familie der Langhalslauten, und Gitarre. Zudem ist er Sänger und Komponist. Dagmi gilt als Pionier der israelischen Ethnomusik, türkische und irakische Musiktraditionen inspirieren seine Kompositionen. Rabbiner David Menachem trug «Piyyutim», liturgische Gedichte, auf Judäo-Arabisch vor, die von seinem Grossvater überliefert wurden. Seine Familie hatte in den 1950er-Jahren den Irak verlassen, er selbst kam in Jerusalem zur Welt. Sein Grossvater mütterlicherseits, Rabbi Gurje Yair, war einer der bedeutendsten Kantoren des Irak. David Menachem spielt Oud, Nay und Perkussionsinstrumente. Sein Cousin, Kantor Moshe Havusha, weihte ihn in die Geheimnisse des arabischen Maqam-Musiksystems und arabischer Musikinstrumente ein. Menachem schöpft bei seinen eigenen Kompositionen aus diesem Wissen. Das Publikum liess sich von den eingehenden Melodien und Rhythmen mitreissen und stimmte in die Gesänge ein.
Menschenmassen strömten in diesem Jahr am Jom Haplitim in die Nationalbibliothek Israels, viele versuchten ihr Glück, doch noch einen Platz im Auditorium ohne Platzreservierung ergattern zu können. «Das Interesse für das Symposium überstieg unsere Erwartungen und räumlichen Kapazitäten», so Rachel Neiman, Leiterin der Abteilung Internationale Medien & PR. Mit bewegenden Worten wandte sich der irakischstämmige Edwin Shuker gegen Ende des Symposiums nochmals an das Publikum und erinnerte daran, dass es die irakischen Juden und Jüdinnen waren, die als Erste aus dem babylonischen Exil nach Zion zurückkehrten. Das Symposium und die feierliche Aufnahme des digitalen Archivs Sephardi Voices in der Nationalbibliothek Israel mündeten im Singen der Hatiqvah, der israelischen Nationalhymne. Mögen die bislang nicht erzählten Geschichten sephardisch-mizrachischer Juden die ihnen gebührende Anerkennung in der israelischen Geschichtsschreibung finden. Ein wichtiger Grundstein dafür wurde mit Sephardi Voices und dem Engagement der Nationalbibliothek gelegt.
Weitere Informationen und das digitale Archiv können online eingesehen werden: https://sephardivoices.com/