80 Jahre Befreiung 02. Mai 2025

Der Spiegel der Erinnerung

Willy Brandts Kniefall in Warschau ging 1970 um die Welt und setzte erinnerungspolitische Massstäbe.

Eine Bilanz über die Nachkriegszeit und ihre Erinnerungskultur 80 Jahrenach dem Sieg über den Nationalsozialismus in Europa.

80 Jahre nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus ist wohl der Augenblick gekommen, Bilanz über die Nachkriegszeit und ihre Erinnerungskultur zu ziehen. Nach erstem Hinsehen scheint einiges auf der Habenseite zu stehen: Frankreich weiss sich weitestgehend in der Tradition von Charles de Gaulles, besingt die Heldentaten der Résistance und schimpft auf die Kollaborateure von Vichy. Polen versteht sich geschlossen als Opfernation, pflegt die Gedenkstätten der Vernichtungslager und rühmt sich seines Widerstands gegen die Nazis. Sogar in der Schweiz, so geduckt und gleichgültig sie sonst auch durch die Geschichte geht, wölkt allmählich eine blasse Ahnung davon auf, dass sie Mitverantwortung am Mord der an ihrer Grenze abgewiesenen Juden trägt. Und in Deutschland ist Gedenken für die Nachkommen der Henker sowieso Erbpflicht.

Ein Meister und seine Lehrlinge
Ja, das Land der Täter setzt erinnerungspolitische Massstäbe. Willy Brandt ging 1970 vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos wie zum Vergebungsgebet auf die Knie. «Das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung», predigte Richard von Weizsäcker mit theologischem Zungenschlag 40 Jahre nach dem Krieg. Und auch am 80. Jubiläum wird man sich befriedigten Gewissens in Pathos und Pietät überbieten: vor Denkmälern posieren, die eine hübsche Kulisse bieten, Stolpersteine polieren, über die kein Mensch je gestolpert ist, die Befreiung zelebrieren, als stünde man gemeinsam mit den Alliierten auf der guten Seite der Geschichte. Nun, nach dem 8. Mai 1945 tat Deutschland das bekanntlich nicht.

Die in ihrem nationalen Grössenwahn gekränkten Deutschen fühlten sich damals als Opfer der Sieger. Man beweinte sich selbst, am liebsten die sogenannten Heimatvertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten, zum einen aus Selbstmitleid, zum anderen aus Schuldabwehr. «Nichts war unerträglicher als das Gejammer», wie sich der aus Reinbek bei Hamburg stammende Holocaustüberlebende Georges-Arthur Goldschmidt in seiner Autobiografie erinnert. Ihm selbst gab man zur Stunde Null zu verstehen, dass er nur störe und besser daran getan hätte, «sich vergasen zu lassen, wie es sich gehörte.» Andere Überlebende wissen Ähnliches zu berichten: «Es muss doch endlich einmal vergessen, es muss doch endlich einmal Schluss gemacht werden!» Diese allem erinnerungskulturellen Anfang vorausgegangene Forderung nach einem Schlussstrich konnte Ralph Giordano bereits 1945 aus deutschem Mund vernehmen.

Hunderttausende Sinti und Roma und sechs Millionen Juden rührten auch ausserhalb Deutschlands an niemandes Gewissen. Dabei gibt es in Europa kaum einen Ort, aus dem rassisch Verfolgte nicht unter Mithilfe einheimischer Kollaborateure deportiert worden sind. In Frankreich und Belgien galt: «Gloire aux Prisonniers Politiques!» Den politischen Häftlingen alle Ehre. Jüdische Überlebende wie die Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung Simone Veil empfanden diese Hierarchisierung der Opfer als permanente Entwürdigung. Im Opferland Polen war man derweil in guter, alter Pogromtradition auch nach Auschwitz um keinen Massenmord an Juden verlegen. 40 Tote forderte am 4. Juli 1946 das Massaker von Kielce, dessen Augenzeugenberichte für 100 Jahre versiegelt worden sind, auf dass die Zeit alle Wunden heilen möge. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und der Meister fand in ganz Europa seine Lehrlinge.

Für den pensionierten Meister wendeten sich die Dinge bald zum Guten. Bereits in den 1950er-Jahren bestand in beiden deutschen Staaten kein Anlass mehr für Scham und Schuld. Der Brückenkopf der Sowjetunion (DDR) wurde einfach so zu einem Bollwerk des Antifaschismus erklärt. Konrad Adenauers Wirtschaftswundernation (BRD) war dank der bestenfalls halbherzig vorangetriebenen Entnazifizierung und dem dafür umso besessener umgesetzten Marshallplan wieder salonfähig und wohl genährt. «Vom Reichsadler zum Mercedesstern», so die Formel, auf die der Auschwitz Überlebende Jean Améry den westdeutschen Identitätswechsel bringt. Mit Blick auf Ostdeutschland wäre hinzuzufügen: Vom Hakenkreuz zu Hammer und Sichel.

Moralische Mathematik
Das erste Aufzucken dessen, was wir Erinnerungskultur nennen, war im wahrsten Sinne Theater: das 1955 für die Bühne umgeschriebene Tagebuch der Anne Frank. Die Passagen über ihre Sexualität und über die Feindschaft zwischen Deutschen und Juden sind, wenn nicht einfach gestrichen, so bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. «Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen.» Über diesen Satz bahnte sich das Stück einen Weg in alle, ja selbst in die deutschen Herzen. Wie heilsam für des Tätervolkes Seele! Da kann man mit aller Schlechtigkeit die Juden abschlachten, und die glauben noch an das Gute im Menschen. Dass Anne Frank besagtes Zitat vor ihrem Hungertod in Bergen-Belsen im Amsterdamer Hinterhaus zu Papier brachte, im Lager womöglich ihren Glauben an das Gute überdachte, stört die Leute bis heute wenig. «Aber dieses Mädchen hätte man doch leben lassen können», klagte eine deutsche Zuschauerin im Anschluss an eine Aufführung. Als wären die Erwachsenen weniger unschuldig gewesen.

Durch die rührselige Legende vom versöhnlichen Juden, der in seinem Glauben an das Gute alles Schlechte vergibt, wurden die Opfer der Erinnerung würdig. «Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben», mahnte zwar 1971 der Philosoph Vladimir Jankélévitch. Aber von Einreden jüdischer Stimmen, und derer gab es viele, liess sich die Nachwelt ihren Opferkitsch nicht nehmen. Damit eröffneten sich willkommene Möglichkeiten zur moralischen Mathematik. Denn je sentimentaler sich das Mitgefühl am Opferjuden von Auschwitz entzündete, desto reineren Gewissens durfte man den Soldatenjuden aus Israel beschimpfen. Besonders die Nachkommen der Henker drehten dem zum Zionisten degradierten Juden aus seinem Staat einen Strick.

Die Rede ist selbstverständlich von der 68er-Bewegung, deren ganzer Generationenstolz es war, sich der eigenen Eltern zu schämen. Die Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1965) hatten so manches Familiengeheimnis gelüftet. Seither wollten die bundesdeutschen Sprösslinge die Bindung an ihre reichsdeutschen, um nicht zu sagen arischen Wurzeln aufgelöst wissen. Und so begannen die jungen Antifaschisten, Widerstandskämpfer zu spielen, wie um nachträglich gegen Adolf Hitler zu revoltieren – zum Leidwesen der Bundesrepublik, deren Staatsräson doch darin bestand, die Nazipensionäre à la Hans Globke und Adolf Eichmann nicht in ihrem Altersidyll zu stören. Mit ihrem Revolutionsgehabe glaubte sich die deutsche Linke in abstrakter und doch trauter Solidarität mit den Opfern des Faschismus. Allerdings zeigte sich Jean Améry, ein echtes Mitglied der Résistance und Opfer des Nationalsozialismus, über ihre antizionistischen Kundgebungen nicht so recht glücklich. «Hier wird wieder einmal mit dem Feuer gespielt, das so vielen ein Grab in den Lüften grub», schrieb er 1977, ein Jahr, bevor er in einem Salzburger Hotel durch eine Überdosis Tabletten in den Tod ging.

Ungezählte Überlebende, die in Wahrheit keine sind, begingen Suizid. Sie werden nicht zu den sechs Millionen gezählt. Dabei wurde an ihnen, wie der Psychoanalytiker William G. Niederland es nannte, «Seelenmord» verübt. 20 Jahre Befreiung? 40 Jahre Befreiung? 80 Jahre Befreiung? Alles Unsinn. Die Krematorien mögen erloschen sein, das Verbrechen am Seelenleben aber hat nie aufgehört. Davon zeugte die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger im Jahr 2017, als sie mit Blick auf ihre Internierung in Birkenau und Christianstadt sagte: «Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern.» Wer gemäss der Nürnberger Rassegesetze vernichtet werden sollte, ist nie vom Terror des Nationalsozialismus befreit worden. Und als wäre ein Dasein in ständiger Todesangst und tiefer Überlebensschuld nicht Drangsal genug, mussten die beinahe Vergasten noch die Erniedrigungen der Nachkriegszeit erdulden.

Die Geschichte geht weiter
Dennoch schickten sich deutsche Psychiater in Entschädigungsverfahren über Jahrzehnte an, die «psychoneurotischen Reaktionen» der Überlebenden als «anlagebedingt» zu diagnostizieren, statt sie auf Erfahrungen drohenden Todes oder den Verlust ganzer Familien zurückzuführen. Das kam der von Nazirenten angefressenen Staatskasse der Bundesrepublik gelegen. So musste an die «neurotisch Veranlagten» keine Entschädigung von ohnehin lächerlicher Höhe entrichtet werden. Doch zu behaupten, Deutschland sei billig davongekommen, wäre Wahrheitsbeugung. Denn in Wahrheit ist Deutschland belohnt worden: mit amerikanischem Geld für den Wiederaufbau der Industrie, mit einem Militär für den Kalten Krieg, mit Eintritt in die europäische Gemeinschaft, mit der sehnsüchtig herbeigewünschten Wiedervereinigung. Die Geschichte geht weiter. Das ist ihr Skandal. Ein historischer Wimpernschlag von 80 Jahren, und schon ist nichts mehr, wie es war. Auschwitz, vorgestern noch Schande, gereicht Deutschland heute zur Ehre. Der Meister ist wieder wer, zwar nicht Meister des Todes, dafür aber Meister des Erinnerns.

Seit der Vereinnahmung von Anne Frank gab es noch einige Unappetitlichkeiten, etwa Martin Walsers Rede über die «Moralkeule Auschwitz» oder den um die Singularität des Holocaust geführten «Historikerstreit». Aber davon lässt sich Deutschland sein aus süssen Tränen und kräftiger Erhabenheit gekochtes Erinnerungssüppchen nicht versalzen. Die Vergangenheit bleibt ein Spiegel, in den man zu gegebenem Anlass hineinblickt, um sich seiner Unterschiedenheit von den Tätern und seines Mitgefühls für die Opfer zu versichern. Den Spiegel selbst sieht man nicht. Man sieht nur sich darin: den Judenfreund, den Humanisten, den Demokraten, den Antifaschisten. In diesem Theater der Eitelkeiten wird toten Kindern wie altersschwachen Überlebenden die Rolle zuteil, Sentimentalitäten zu wecken und Versöhnungsversuche zu würdigen. Sechs Millionen werden aber niemals vergeben, schon gar nicht einer Welt, die sich seit nunmehr 80 Jahren unter dem Anschein des Innehaltens weiterdreht. 80 Jahre. Das hätte die Dauer eines der vielen genommenen Menschenleben sein können. l

Benjamin Zechbauer ist Doktorand am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der LMU München. Er forscht zu Zeugnissen von Überlebenden der Schoah.

Benjamin Zechbauer