Ari Folman spricht mit Amir Blumenfeld, ehemaliger Trauma-Experte der israelischen Armee, über die psychischen und physischen Folgen des 7. Oktobers für die Geiseln und die israelische Gesellschaft.
Im Jahr 2006 wurde der wohl berühmteste israelische Soldat, Gilad Shalit, von einer Zelle der Hamas bei einem Überfall nahe Kerem Shalom an der Grenze zu Gaza entführt. Eine Sechserbande überwand den Grenzzaun durch einen unterirdischen Tunnel, und Gilad Shalits Panzer stand etwa 100 Meter entfernt vom Zaun. Seine Kameraden wurden getötet, als zwei Granaten in den Panzer geworfen wurden, und Shalit, der aus dem brennenden Gefährt fliehen konnte, wurde gefangen genommen.
Im gleichen Jahr hatte Amir Blumenfeld, ausgebildeter Kinderchirurg, eben einen längeren Militärdienst beendet. Doch er wurde zurückgerufen. Seine Mission: eine Analyse der Hamas-Videoaufnahmen und von Zeugenaussagen, um Shalits physischen und mentalen Zustand bei seiner Entführung einzuschätzen.
tachles: Was war die Grundlage Ihrer Beurteilung?
Amir Blumenfeld: Hauptsächlich die Arbeit der Polizei-Forensiker. Sie gingen in den Panzer und blieben drei volle Tage dort drin. Ihr Bericht umfasste 100 Seiten!
Was war in diesem Bericht enthalten?
Die Flugbahnen des Beschusses, die Ausrichtung der Einschussstellen und daraus folgernd eine Rekonstruktion seines medizinischen Zustands. Zwei Wochen nach dem Erhalt des Berichts wurden zwei weitere Soldaten entführt, Regev und Goldwasser, diesmal im Libanon. Zu dieser Zeit hatte das von mir einberufene Team für die Einschätzung von Shalits Zustand schon Erfahrung gesammelt. Wir hatten ein Arbeitsprotokoll entwickelt, verbrachten mehrere Tage am Tatort und rekonstruierten diesen später in präzisem Detail im Hauptquartier des Militärs in Tel Aviv. Unseren Bericht konnten wir in kurzer Zeit abliefern. Wir entdeckten, dass Goldwasser bei der Entführung getötet worden war, denn wir fanden seine Weste, durchlöchert von Einschüssen aus einem schweren Maschinengewehr. Was Regev betraf, waren wir geteilter Meinung: Ich glaubte, dass er schwer verwundet worden war, andere sahen das anders. Letztlich kamen aber beide ums Leben.
Sie hatten also 18 Jahre vor dem 7. Oktober schon ein Protokoll für die Untersuchung des Zustands von Entführten entwickelt?
Ja, genau. Deshalb wurde ich noch am Abend des 7. Oktober erneut rekrutiert. Aber diesmal war die schiere Menge an Videomaterial überwältigend.
Es wurden nicht weniger als 200 000 Videos aufgenommen – von Besuchern des Nova-Festivals, Einwohnern der betroffenen Kibbuzim und Hamas-Militanten selbst. Teils wurden sie live in den sozialen Medien geteilt, viele andere auf Telegram.
In der Tat. An jenem Abend versammelte sich eine Gruppe medizinischer Profis, und wir begannen mit dem Versuch, diese Flut an Daten zu interpretieren. Einige Tage später erhielt ich das erste Video, das eine der weiblichen Geiseln zeigte – den ersten durch die Hamas inszenierten Clip.
Hatten Sie zuvor aber schon Material analysiert, das – eher chaotisch und unsystematisch – auf Telegram veröffentlicht worden war?
Ja, eine ganze Menge.
Konnten Sie anhand dessen sogar den Tod einer der Entführten feststellen?
Ich sehe bis zum heutigen Tag das Bild ihres Körpers vor mir, die Nahaufnahme ihres Gesichts. Das sucht mich im Schlaf heim.
Wie analysiert man Videobeweise in einem solchen Fall?
Zunächst prüft man das Bewusstsein: Ist die Person klar oder desorientiert, sind die Augen fokussiert oder abschweifend? Dann untersucht man die Verletzungen: Welche Art von Wunden sind sichtbar, was wäre an Behandlung dafür nötig? Genauso wie bei Hersh Goldberg-Polin und der Verletzung seines Arms. Anhand der Daten kann man die Überlebenschancen einschätzen.
Er überlebte seine Verletzung, sogar in den Tunneln. Er wurde nur deshalb ermordet, weil die Armee darauf bestand, ihn durch eine militärische Operation zu befreien …
Ja. Wir sprechen über Hershs Tod und jenen der fünf anderen, die mit ihm getötet wurden als «vermeidbare Todesfälle». Diese Leben hätten gerettet werden können, wenn die richtigen Schritte rechtzeitig unternommen worden wären.
Was schätzen Sie, wie viele solcher «vermeidbarer» Fälle es insgesamt gegeben hat?
Unsere Schätzung liegt bei nicht weniger als 41 der Geiseln. Sie hätten rechtzeitig und lebend zurückgeholt werden können. Das schliesst Shiri Bibas und ihre zwei Söhne Kfir und Ariel mit ein.
Diese Information wurde nie veröffentlicht!
Nein, aber es ist eindeutig. Im November hätte ein Deal für ihre Freilassung vereinbart werden können. Die Hamas wollte sie zurückschicken – aber jemand verweigerte die Annahme. Alle drei, Shiri und ihre Jungs, waren damals noch am Leben und wurden zum Symbol aller Entführten. Sie erlebten den ersten Gefangenenaustausch im Dezember nicht mehr, aber im November waren sie sehr wohl noch am Leben, da bin ich sicher. Und wir sollten nicht vergessen: Noch bevor der erste Deal wirklich stattfand, hatte die Hamas bereits zwei Amerikaner plus Yocheved Lifshitz und Nurit Cooper ganz ohne Deal freigelassen. Die Bibas-Familie hätte ebenso befreit werden können.
Schrecklich … Weshalb wollte man sie nicht zurückhaben?
Weil es nicht in die strategischen Ziele unserer Führung passte. Geheimdienstoffizielle bestätigen dies – sie lebten noch im November, und die Hamas war willens, einen Deal für ihre Rückkehr abzuschliessen.
Wie erinnern Sie sich an diese ersten Tage nach dem 7. Oktober?
Es herrschte eine tiefe Verunsicherung – an erster Stelle darüber, wer entführt worden war und wer nicht. Wer war getötet worden, wer überlebte, wer wurde vermisst? Es dauerte Tage, um eine sichere Zahl der Entführten, lebend oder tot, zu erhalten. Eine weitere Woche verging, bis wir die schlüssige Zählung hatten: 251 Geiseln. Wir begannen, zu jeder der Personen Daten zu sammeln, zu ihrer Gesundheit, chronischen Erkrankungen und nötigen Medikamenten. Dann bereiteten wir Kisten mit Medikamenten vor.
Hatten Sie eine Vorstellung davon, für wie lange Sie Medikamente einberechnen mussten? Wie lange die Gefangenschaft dauern würde?
Unsere Schätzung basierte auf nur einigen Monaten. Wir hätten nie gedacht, dass wir am heutigen Punkt ankommen würden, an dem seit zwei vollen Jahren einige in Geiselhaft sind. Parallel entwarf ich das Protokoll für den Empfang jener, die zurückkehren würden. Es gab dazu Diskussionen mit dem Geheimdienst, welcher sie noch vor einer medizinischen Untersuchung befragen wollte. Heute wissen wir, dass eine schnelle medizinische Triage wesentlich ist, um den Behandlungsbedarf zu identifizieren, damit manche sofort, noch vor dem Wiedersehen mit ihren Familien, behandelt werden können. Erst danach kann die Befragung durch den Geheimdienst erfolgen.
Erhalten Frauen und Männer unterschiedliche Behandlungen?
Ja. Frauen werden nur von Frauen untersucht. Das trifft nicht nur auf die medizinischen Teams zu, sondern auch auf den Shin Bet. Wir wissen ja im Voraus nichts über das Ausmass sexueller Gewalt, wir können nicht wissen, was sie erlitten haben. Deshalb werden Frauen nur von Frauen behandelt und befragt. Im Januar 2024 begannen wir, uns damit auseinanderzusetzen, was mit Menschen geschieht, die für so lange Zeit im Untergrund leben mussten. Wir entdeckten, dass es dazu keine medizinische oder wissenschaftliche Literatur gibt, und sicher nicht bezüglich einer so breiten Palette an Altersstufen und gesundheitlichen Zuständen. Wir wandten uns deshalb anderen Domänen zu: Untersuchungen zu Isolation, einschliesslich Studien über Astronauten.
Gibt es denn eine Verbindung zwischen Astronauten und Menschen, die für zwei Jahre unterernährt in Tunneln gehalten werden?
Mangel an Sonnenlicht, an Raum für Bewegung und an natürlichem Sauerstoff. Aber natürlich sind die Bedingungen in den Hamas-Tunneln mit nichts anderem zu vergleichen. Deshalb gründeten wir unter meiner Leitung eine Forschergruppe mit Psychologen, Ärzten und ehemaligen Kriegsgefangenen aus früheren Kriegen. Wir wollten den kumulativen Schaden verstehen, der durch die Hamas-Gefangenschaft entstanden ist.
Was ist in Ihrer Sicht als irreversibel zu definieren?
Alle haben sie Schäden erlitten; alle haben unter Mangelernährung gelitten, und die meisten haben Schrapnellwunden, die in den Videos des Shin Bet nicht zu sehen sind. Romi Gonen erlitt eine schwere Verletzung, die immer noch behandelt wird. Maya Regev kann noch immer nicht gehen und ist noch in der Reha. Das sind sehr ernsthafte Verwundungen, und das, bevor wir überhaupt von psychischen Verletzungen sprechen.
Können solche psychischen Wunden geheilt werden?
In einigen Fällen ja. Die Nächte sind am schlimmsten – unerträglich. Ich übertreibe nicht: Diese Menschen können nicht schlafen. Sie können keine psychische Ruhe finden in den Stunden, die dafür da sind, um zu heilen. Ich kann nicht sagen, dass dies für 100 Prozent von ihnen gilt, aber sicher für die überwiegende Mehrheit. Das von mir aufgestellte professionelle Team geht überall hin, vom Präsidenten bis zu allen, die irgendeine Entscheidungsmacht haben, um zu verdeutlichen, wie überaus kritisch jeder einzelne Tag und jede Stunde im Leben einer Geisel ist. Aber ich habe die Hoffnung verloren, dass jene an der Macht, der oberste «Gebieter» und seine Minister, sich darüber auch nur die geringsten Gedanken machen. Es liegt nun alles in den Händen des Volkes.
Das Volk hat versagt, seine Verantwortung nicht wahrgenommen, und ist verzweifelt. Wir hätten das Land in Brand setzen sollen, um diesen Krieg zu beenden und die Geiseln heimzubringen, die Leben der Soldaten zu retten und den Massenmord in Gaza zu stoppen. Aber wir tun nichts ausser an Demonstrationen zu gehen, die Beerdigungen gleichen …
Eine halbe Million ging auf die Strasse – allein wegen des Todes von Hersh Goldberg Polin und der anderen fünf Geiseln.
Das war vor fast einem Jahr, und seither ist nichts besser geworden, auch wenn es einen zur Weissglut treibt. Aber kommen wir zur «humanitären Selektion», die uns unser oberster «Führer» in Vorbereitung für einen etappenweisen Geisel-Deal aufgezwungen hat.
Das Thema ist abgehakt. Dank unserer Arbeit verstehen die Israeli jetzt: Alle Geiseln – jede einzelne von ihnen – sind ein «humanitärer Fall». Das begann mit Anrufen, die ich von zwei Familien von Geiseln erhielt. Sie wurden unerwartet von der Armee kontaktiert, um sie zu informieren, dass ihre Gefangenen «in medizinisch gutem Zustand» seien. Warum sollte man ihnen so etwas mitteilen? Da kam umgehend der Verdacht auf, dass es eine Botschaft übermitteln sollte: Eure Lieben werden nicht in der ersten Phase befreit. Ich schwor mir, dem nachzugehen.
Also kontaktierte ich, wen auch immer ich konnte. Ich schrieb allen Leitern des Gesundheitssystems einen Brief und rief dazu auf, dass alle zivilen und militärischen Offiziellen sich weigern sollten, bei diesem Selektionsprozess mitzuarbeiten. Und ich bestand auf das Wort «Selektion», wiederholte es so oft wie nur möglich, damit Menschen verstehen würden, was das für die Familien bedeuten würde. Und was es für Juden bedeuten würde – wo immer sie auch sein mögen. Eine Prioritätenliste mit jenen, die zuerst zurückkehren sollen, ist eine Selektion. Wie in den Konzentrationslagern. Nur dass wir diesmal kollaborieren.
Aber wenn Sie sich gegen diese «Selektion» stellen, gestehen sie dann nicht implizit ein, dass nicht alle in einem Mal, zusammen, zurückkehren werden?
Das ist ja das Schreckliche dabei – dass über einen Deal, der in Teilen realisiert wird, gesprochen wird, als ob dies ein Naturgesetz wäre. Warum? Warum muss nur die Hälfte freigelassen werden? Wer entscheidet das? War das irgendein göttliches Dekret, das uns vom Himmel auferlegt wurde? Absolut nicht! Das ist die Entscheidung eines Mannes. Eines Politikers, dessen einzige Sorge sein weiterer Griff nach der Macht ist, sein eigenes Überleben. Und er will jemand anderen die Drecksarbeit machen lassen, die Auswahl für ihn zu treffen, damit er wie bisher weitermachen kann. Aber nun, nach unserem unablässigen Kampf, gibt es in Israel keinen einzigen Professionellen in der Medizin, der willens wäre, im Auftrag Netanyahus diese Selektion vorzunehmen. Deshalb gab dieser ein Statement heraus, wonach nun die Hamas entscheiden wird, wer zuerst gehen kann. Und vielleicht gefällt es Netanyahu ja auch nicht, dass die Geiseln ausgezehrt und gebrochen heimkommen könnten, weil das nämlich klar zeigen würde, wie extrem es war, sie für zwei Jahre in den Tunneln im Stich zu lassen.
Und nicht daran zu denken, was nach einem Ende des Kriegs geschehen wird, wenn die Welt durch die Öffnung Gazas für Journalisten sieht, welche Abscheulichkeiten wir dort angerichtet haben – etwa den sogenannten «humanitären Korridor», durch den die Palästinenser zwischen zwei Reihen Bewaffneter ihr Mehl holen müssen …
Ich habe kürzlich gelesen, dass bei einem einzigen Luftschlag 40 Neugeborene in Gaza getötet wurden. Ich würde gerne über eine Studie von Yossi Levi-Belz sprechen, einem Psychologen, der den seelischen Zustand und die Ängste von 550 Israelis zwischen Mai 2023 und Mai 2025 untersuchte. Die Resultate? Über die Hälfte von ihnen leidet unter Angstzuständen, Depressionen, Verlustangst und Schlafstörungen. Ein wesentlicher Teil von ihnen begann während dieser Zeit, Antidepressiva zu nehmen. Das hatten sie zuvor nie getan.
Auch die israelischen Kinder, die zuerst vor den Geiselpostern behütet worden waren, wissen heute ganz genau: Es gibt Geiseln in Gaza, die im Stich gelassen wurden. Und dieses Wissen erzeugt intensive Angst, ein Gefühl der Unsicherheit über die Zukunft. Und sogar Kinder, deren Mütter sie noch nicht geboren haben, können unter dem Trauma dessen leiden, was ihre Mütter nun erleiden.
Wir gehen durch eine zweite Schoah. Darüber soll sich niemand im Unklaren sein.
Und zum Schluss: Gibt es Hoffnung?
Ja. Absolut. Beispielsweise die Geschichte so vieler Überlebender nach der Schoah, die ihr Leben nach dem Krieg wieder aufgebaut haben. Das, und nur das, ist meine einzige Hoffnung in dem, was jetzt passiert.