Inmitten der prekären Bedingungen von Rikers Island, New York Citys grösstem Gefängnis, ist diesen Sommer ein einzigartiges religiöses Projekt entstanden.
Die Namensgebung ist Programm: Die meisten der rund 7000 Insassen erleben ihre Realität als «sehr schmale Brücke» – ein Anklang an das hebräische Lied «Gesher zar meod» und an das Gefühl, von ihrem bisherigen Leben abgetrennt zu sein. Die federführende Rabbinerin Mia Simring erklärt: «Jeder hier weiss, dass ihn eine tatsächlich sehr schmale Brücke vom Rest des Lebens trennt.»
Vielfalt als Leitmotiv
Der neue Siddur ersetzt bislang benutzte «fotokopierte Gebetspakete», die weder in Umfang noch Inhalt den vielfältigen spirituellen und emotionalen Bedürfnissen der oft wenig religiös vorgebildeten Gemeinde gerecht wurden. Das «Very Narrow Bridge»-Gebetbuch enthält Gebete auf Hebräisch, Englisch, Russisch und Ladino, Meditationen zu Heilung und Genesung sowie Gedichte von aktuellen und ehemaligen Inhaftierten.
Die Entstehung war ein Jahr lang Teamwork über religiöse Denominationen hinweg: Simring (Konservativ) und ihr Kollege Gabriel Kretzmer-Seed (orthodox) arbeiteten eng mit der New York Jewish Coalition for Criminal Justice Reform sowie weiteren Unterstützern wie JCRC-NY und der Central Synagogue zusammen.
Spirituelle Würde und Kreativität
Im Vordergrund stand stets, ein Buch zu schaffen, das spirituelle Würde vermittelt und Zugang zu jüdischer Tradition für sehr unterschiedliche Menschen herstellt, von Orthodoxen bis zu Säkularen. Farbige, kräftige Gestaltungen mit Naturmotiven sollen, so die Rabbiner, für Momente von Schönheit und Hoffnung sorgen – ganz bewusst in einer Umgebung, in der es sonst wenig Farben und Inspiration gibt.
Stimmen aus dem Inneren
Besonders macht das Gebetbuch auch, dass es Stimmen aus dem Gefängnis selbst aufnimmt. So findet sich ein Gedicht von Miguel Martinez, einem ehemaligen Insassen: «Meine Reise war niemals allein – ich habe David, Saul, Abraham, Lot und den Allmächtigen an meiner Seite.» Seine Entdeckung des Judentums während und nach der Haft beschreibt er als Rettungsanker und Hoffnung. Die doppelte Einweihung des Siddur im Juni, sowohl in Rikers als auch in der Central Synagogue in Manhattan, betonte: Religiosität, Inspiration und Zugehörigkeit dürfen nicht an Gefängnismauern enden. Im Gegenteil, sie können gerade dort neue Bedeutung bekommen.
Rabbi Simring bringt es auf den Punkt: «Der Wert von etwas Schönem und Buntem kann nicht überschätzt werden – vor allem, wenn man so wenig Persönliches besitzen darf. Etwas in den Händen zu halten, das Hoffnung vermittelt, ist ein Geschenk.»