Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen NS-Truppen am 8. und 9. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg auch in der Schweiz endlich zu Ende – allerdings nicht auf der ganzen Welt.
Der Historiker Jakob Tanner fasst die Situation in der Schweiz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen: «Erleichterung und grosse Freude in der Bevölkerung, aber die Regierung in Schockstarre.» Laut Tanner habe der Bundesrat vor allem befürchtet, dass sich eine neue Flüchtlingswelle über die Schweizer Grenzen ergiessen könnte. «Der General trat nicht etwa zurück, obwohl die Schweiz nur in Kriegszeiten diese Position zu besetzen hat. So blieb das Land trotz dem Tag der Befreiung in Europa im Kriegszustand.» Erst im August erfolgte die Demobilisierung und der Rücktritt von General Henri Guisan, ungefähr zur Zeit des Kriegsendes im Pazifik. Es habe sich um eine Art der schweigsamen Neutralität gehandelt, sagt Tanner, wobei die Schweiz während des Krieges alles andere als neutral gewesen sei.
Die Alliierten hatten auf die bedingungslose Kapitulation bestanden. Sie erfolgte nach einigen Verhandlungen am 8. Mai 1945. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unterschrieb sie für Nazi-Deutschland. Weil die Sowjet-Truppen darauf bestanden, dass nicht nur für die West-Alliierten eine Kapitulation unterschrieben werde, sondern auch für sie, fand eine zweite Unterschrift in ihrem Hauptquartier in Berlin-Karlshorst statt, und weil es, als es so weit war, wegen der Zeitverschiebung in Moskau bereits einen Tag später war, wird dort das Kriegsende bis heute am 9. Mai gefeiert.
Kein einheitliches Ende
Am anderen Ende der Welt war der Krieg im Mai 1945 noch immer in Gange. Chana Berlowitz, deren 94. Geburtstag bevorsteht, lebte damals mit ihrer Familie als Teenager in Los Angeles und besuchte die High School. «Für euch in Europa mag der Krieg im Mai zu Ende gegangen sein», sagt sie heute, «aber für uns war er ja noch lange nicht vorbei. Für uns als Juden waren zwar die Nazis die Feinde, aber für uns als Amerikanerinnen und Amerikaner waren es die Japaner. Viele Menschen fürchteten eine japanische Invasion bei uns in Kalifornien.» In ihrer Angst übertrieben die Amerikaner und sperrten alle, die asiatisch aussahen, in strenge Internierungslager, ob sie Japaner waren oder nicht oder ob sie schon seit Generationen als amerikanische Staatsbürger lebten. Zwei Onkel von Chana kämpften im Pazifik. Aber da ihre Grosseltern bereits am Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika eingewandert waren, hatte die Familie keine Verwandten in Europa, die durch die Nazis gefährdet gewesen wären oder gegen diese hätten kämpfen müssen.
Chana Berlowitz lebte mit ihrer Familie erst in New York City, und sie erinnert sich an Protestmärsche, durch die Präsident Roosevelt zum Kriegseintritt und zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Europa bewegt werden sollte. Erst als die japanische Flotte den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii überfallen hatte und gros-se menschliche Verluste verursacht worden waren, traten die USA am 7. Dezember 1941 in den Zweiten Weltkrieg ein, und zwar gleich an zwei Fronten, in Europa und vor allem im Pazifik. 1942 übersiedelte die Familie von Chana Berlowitz an die Westküste nach Los Angeles, wo sie der Pazifik-Front bedeutend näher war als den Kämpfen in Europa. Sie erinnert sich aber noch sehr gut an die Reaktion der USA auf das berühmte Telegramm von Gerhart Riegner. Mit diesem hatte er die Alliierten über die Pläne der Nazis zur Vernichtung der europäischen Juden unterrichtet. Aber die «New York Times», erinnert sich Chana Berlowitz, publizierte nur auf ihrer Seite 57 eine kleine Meldung darüber. Dabei sassen ständig jüdische Flüchtlinge bei ihren Eltern zu Hause und berichteten von den schrecklichen Ereignissen, die den Juden in Europa angetan wurden. Für sie war der Zweite Weltkrieg erst am 5. August 1945 zu Ende, als die Japaner ebenfalls bedingungslos kapitulierten. «Leider musste erst noch die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki durch zwei amerikanische Atombomben erfolgen», bedauert sie noch heute. Chana Berlowitz war und ist stets aktiv für wohltätige und politische Zwecke engagiert.
Zürcher Erinnerungen
Yvette Mottier, promovierte Archäologin und Historikerin, ist gerade 90 Jahre alt geworden. Ihre Erinnerungen an den 8. Mai 1945 sind natürlich weit intensiver als jene von Chana Berlowitz am anderen Ende der Welt. Sie war damals zehn Jahre alt und besuchte in Zürich die vierte Klasse. Sie befand sich am Ende einer Angina, doch der Hausarzt der Familie, Doktor Dreifuss, erlaubte ihr, wieder zur Schule zu gehen. «Wir bekamen einen Tag schulfrei und weisse Kässeli mit einem etwas krummen Schweizerkreuz und durften auf allen Strassen Geld für die Schweizerspende sammeln», erinnert sie sich. Die Kinder konnten den Inhalt der Kässeli in grosse Kessel entleeren, und manchmal sei sogar eine Tausendernote in diesen Behälter gefallen. Das Geld sei für die hungernden Menschen in den Kriegsgebieten bestimmt gewesen, sagt Mottier.
Die Familie Mottier wohnte damals gegenüber der Pflegerinnenschule, und die Krankenschwestern liessen ihre Fenster offen und ihre Radioapparate den ganzen Tag auf voller Lautstärke laufen. «Wir besassen zwar ein Telefon, was nicht überall üblich war, aber kein Radio», erinnert sich Mottier. Ihr Vater, ein Orchestermusiker, wollte zu Hause seine Ruhe haben. Erst der jüngere Bruder kaufte sich als Teenager einen Radioapparat, den er aber nur in seinem Zimmer hören durfte. «Aber dreimal täglich kam die NZZ ins Haus, und diese Zeitung lieferte alle Nachrichten, die wichtig waren.» Als Zehnjährige verstand die Schülerin längst noch nicht alles. Aber sie war froh, dass sie in der Nacht nicht mehr von Fliegeralarm geweckt wurde und dass in der Schule nicht mehr geübt werden musste, jeweils beim zweiten Fliegeralarm in den Keller zu flüchten. Am nachhaltigsten sind die Erinnerungen an die Einschränkungen im Alltag, die der Krieg sogar in der Schweiz mit sich brachte. Am schlimmsten seien die Rationierungsmarken gewesen, erinnert sie sich. «Am 20. jeden Monats gingen die Brotmärkli zu Ende. Und die Buttermarken waren so knapp, dass wir die noch vorhandenen Scheiben des dunklen Brotes nur hauchdünn bestreichen konnten. Schlagrahm gab es nicht und keine Südfrüchte wie Orangen oder Bananen.» Sie besass ein paar Schuhe aus Leder, für die Marken hergegeben werden mussten, und im Sommer trug sie Zoggoli aus Holz, für die es keine Marken brauchte. Ihre Mutter, mit einer Praxis als Logopädin, besorgte sich mit entsprechenden Marken Wolle zum Stricken, aber diese reichte nur jeweils für einen Pullover, entweder für den Vater, den Bruder oder für Yvette.
Die Mutter, eine in Wien geborene Jüdin, machte sich grosse Sorgen um ihre dort gebliebene Verwandtschaft. Mit ihrem Schweizer Pass traute sie sich sogar während des Krieges zweimal nach Wien, um nach einer Tante von Yvette zu schauen. Aber die meisten Verwandten konnten sich nach England und nach Amerika retten.
Yvette Mottier erinnert sich auch an die Bomben, die auf Schaffhausen und in der Nähe von Oerlikon fielen. Die Aufschläge verursachten dumpfe Töne und erschreckten das Mädchen. «In einem Traum des Nachts nach dem 8. Mai 1945 sah ich die zerstörten Städte, die ich von Zeitungsbildern kannte, wie durch ein Wunder wiederhergestellt. Natürlich wurde mir anschliessend bewusst, dass es noch sehr lange dauern würde, bis der Zweite Weltkrieg auch die Trümmerlandschaft beendet haben würde.»
Erste Verlautbarung aus Davos
Josef Brumlik, zeitlebens ein linker Zionist, war selbst ein Flüchtling und leitete die Jüdische Flüchtlingshilfe in Davos, in der Pension Rose, die in das Haus Hertig umbenannt worden war. Er bezeichnete sich gerne als Präsidenten der jüdischen Gemeinde Davos, die es in dieser Form gar nicht gab, aber es gab ziemlich viele jüdische Menschen in Davos, meist lungenkranke Patienten, die dem Nazi-Horror entgangen waren. Im Mai 1945 war es absehbar, dass demnächst ein Waffenstillstand zwischen den Alliierten und den Nazi-Truppen unterzeichnet würde. Einem politischen Menschen wie Josef Brumlik war dies wohl schon früh klar. Jedenfalls verewigt das Archiv des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds eine kleine Heldentat dieses humorvollen Mannes. Lange vor dem 8. Mai schrieb Josef Brumlik im Namen der jüdischen Gemeinde Davos, die es, wie gesagt, in dieser Form gar nicht gab, einen Brief an die «Davoser Zeitung» und legte eine Verlautbarung bei. Er schrieb, dass er als Präsident der jüdischen Gemeinde den Wunsch habe, dass diese Verlautbarung zu dem Waffenstillstand pünktlich zum 8. Mai in der Zeitung publiziert werde. Was vermutlich auch geschah. Dies war möglicherweise die erste jüdische Verlautbarung, publiziert in einer Schweizer Zeitung, zum Ende des Zweiten Weltkriegs, das von den vielen jüdischen Menschen in Davos so sehnlichst herbeigewünscht worden war wie überall in der jüdischen Welt.