standpunkt 27. Jun 2025

Konfrontation für Israeli und Juden

Am 9. Dezember 2023 standen einige von uns bereits in Bern auf der Strasse, um für Frieden in Israel und Palästina zu demonstrieren. Vereint im Mitgefühl mit den Opfern und Geiseln des 7. Oktober sowie mit den Menschen in Gaza, die unter den ersten israelischen Bombardierungen litten. Am 14. Dezember 2023 versammelten wir uns in Genf, auf dem Platz des Friedens, um erneut für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einzustehen.

Heute ist Frieden ferner denn je. Der Krieg breitet sich Tag für Tag weiter aus. Eine Zukunft in Sicherheit und Würde ist mehr denn je gefährdet. Das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser, einen eigenen Staat zu gründen, wird in Gaza und den besetzten Gebieten in nie dagewesenem Ausmass missachtet.

Zwei Völker erleben tagtäglich Gewalt und Angst. Auf beiden Seiten wächst Hass, Rache, Gewalt und Verzweiflung. Und wir hier laufen Gefahr, entweder in Gleichgültigkeit zu verfallen oder selbst zu verzweifeln. Gefahr, die Augen vor dem Grauen zu verschliessen, das die palästinensische Bevölkerung durchlebt: Kinder, Frauen und Männer – getötet, verstümmelt, ausgehungert, ohne je einen sicheren Ort zu finden, bedroht von Vertreibung. Wir laufen Gefahr, uns machtlos zu fühlen angesichts der entfesselten Gewalt seit 20 Monaten. Gefahr, auch die Ängste der Familien der israelischen Geiseln zu verdrängen sowie den zunehmenden Antisemitismus, mit dem sich Jüdinnen und Juden in der Diaspora konfrontiert sehen.

Und dennoch fühlen wir uns weiterhin verantwortlich, den Einsatz für die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts fortzusetzen – jener Normen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verbieten, ebenso wie die Mechanismen, die geschaffen wurden, um das Risiko eines Völkermords zu verhindern. Wir, die von unseren Behörden fordern, dass sie ihre Verantwortung übernehmen, sind immer zahlreicher. Wir sind hier, um vom Bundesrat und vom Parlament zu fordern, dass sie alles unternehmen, was in ihrer Macht steht, um einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen. Wir fordern, dass sie die Kriegsverbrechen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Vertreibungsdrohungen verurteilen; dass sie darauf achten, dass die humanitäre Hilfe jene erreicht, die sie so dringend benötigen; und dass sie eingreifen, um Nahrungsverteilungen zu stoppen, die sich als tödliche Fallen erweisen. Dass sie jede Zusammenarbeit der Schweiz mit der israelischen Armee und jener Industrie beenden, die die Mittel liefern, um die Kriege fortzusetzen, die sie gegen Gaza und andere Länder der Region führt. Dass sie das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkennen. Wir erkennen uns nicht in der Haltung des Bundesrates wieder und fordern, dass er endlich sein Schweigen bricht. Es gibt keine Neutralität angesichts der Verletzung von Menschenrechten.

Ich muss vom wir zum ich kommen. Ich erkenne mich in der Haltung unserer heutigen Regierung nicht wieder – einer Regierung, der ich einst das Privileg hatte, anzugehören. Ich wurde in eine jüdische Familie geboren. Auch wenn ich mich von der Religion gelöst habe, stehe ich fest zu meinem kulturellen und historischen Erbe. Meine frühe Kindheit habe ich in den dunklen Jahren des Krieges und der Schoah erlebt. Ich habe die Hoffnung geteilt, dass der Staat Israel den Überlebenden einen sicheren Ort bieten würde – ohne dabei die Idee zu akzeptieren, einem «Volk ohne Land ein Land ohne Volk» zu überlassen. Und ich erkannte zugleich, wie der Westen auf diese Weise sein «jüdisches Problem» loszuwerden suchte. Seit Jahrzehnten bewundere und unterstütze ich das unermüdliche Engagement palästinensischer und israelischer Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Jüdinnen und Juden sowie Araberinnen und Arabern einsetzen – in Sicherheit und mit gleichen Rechten. Seit 1967 verurteile ich die Besatzung des Westjordanlands, die Kolonisierung, die Gewalt gegen die dort lebenden Menschen, das Militärregime und das Apartheidsystem, das ihnen aufgezwungen wurde. Heute klage ich die israelische Regierung an, nicht nur gegen den Terrorismus der Hamas Krieg zu führen, sondern gegen das gesamte palästinensische Volk. Ich klage sie an, Handlungen zu verfolgen, zu dulden oder zu unterstützen, die auf eine Ausweitung Israels «vom Fluss bis zum Meer» abzielen. Und ich erwarte vom Bundesrat, dass er diese todbringende Politik verurteilt.

Der Text gibt die Rede von Altbundesrätin Ruth Dreifuss an der Kundgebung «Solidarität mit Gaza» vom letzten Samstag in Bern wieder.

Ruth Dreifuss