Talmud heute 04. Jul 2025

Iran, Gaza und König Schaul

Der 12-Tage-Krieg zwischen Israel und dem Iran ist vorbei. Die israelischen Streitkräfte triumphierten, wie es zuvor selbst in den optimistischsten Prognosen niemand für möglich gehalten hätte. Man kann nicht beschreiben, was für ein riesiger Felsbrocken vom Herzen vieler Israelis gefallen ist. Seit einem Vierteljahrhundert schwebt über den Bürgern des jüdischen Staates die Bedrohung Irans, der die Auslöschung Israels öffentlich propagiert hat. Plötzlich, in der Nacht des 13. Juni, wurde es ernst: Die israelische Luftwaffe attackierte in Zusammenarbeit mit dem Mossad wesentliche Glieder des iranischen Konstrukts und schwächte es dramatisch, was bereits nach wenigen Stunden – ähnlich wie beim Präventivschlag in Ägypten am Anfang des Sechs-Tage-Kriegs 1967 – den Weg zum Sieg ebnete. Wie kann es sein, dass die israelische Armee gegen den persischen Giganten einen solch atemberaubenden Sieg einfuhr, sich jedoch am 7. Oktober 2023 von einer Horde von Terroristen und Mitläufern aus Gaza dermassen überrumpeln liess und bis heute gegen die Hamas-Terroristen im Sumpf von Gaza kämpft? Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Objektiv kann man drei wesentliche Unterschiede herausheben. Erstens war die Ausschaltung der iranischen Bedrohung ein über viele Monate, wenn nicht gar Jahre geplanter Coup. Die Vorbereitung ging bis ins kleinste Detail und die taktische Meisterleistung war das Resultat minutiöser Planung. Der Gaza-Krieg begann jedoch mit dem barbarischen Überfall der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023. Die IDF besass keine Pläne zur Einnahme Gazas und Bezwingung der Hamas – auch dies ein Ausdruck der Hybris, welche die israelische Armeeführung zuvor überkam. Die IDF ist überzeugender bei geplanten (Iran) als bei spontanen Militäroperationen (Gaza).

Zweitens ist das Wesen der Kriegsführung ausschlaggebend. Im Iran ging es um Präzisionsschläge der israelischen Militärflugzeuge und verborgener Bodenoperationen des Geheimdienstes gegen klare Ziele. In Gaza jedoch ist von einem komplizierten Guerilla-Krieg gegen feige Terroristen die Rede, die in einem urbanen Umfeld eigene Zivilisten als Schutzschilder missbrauchen und ganz plötzlich aus einem Tunnel hervorschiessen, um israelische Soldaten zu attackieren.

Der dritte Unterschied ist der wesentlichste: In Iran hatte es keine Geiseln (wenn man von der ansässigen jüdischen Gemeinde absieht, deren Mitglieder jetzt leider Opfer von Razzien der Regierung werden). Im Gaza-Streifen jedoch werden noch heute 20 lebende israelische Geiseln unter schrecklichen Bedingungen in den Tunnels gefangen gehalten. Dazu kommen 30 Leichen, die von der Hamas unmenschlicherweise nicht zu einem Begräbnis in Israel freigegeben werden. Die IDF ist nicht nur darauf erpicht, palästinensische Zivilisten zu verschonen, auch will man die israelischen Geiseln nicht in Gefahr bringen. Die Hamas ist sich dieser israelischen Schwäche bewusst und schlachtet diese gnadenlos aus.

Die IDF brilliert im Grossen (Iran) und tut sich schwer im Kleinen (Gaza). In der Bibel gibt es eine Gestalt, die eine ähnliche Diskrepanz in sich vereint: König Schaul. Schaul war der erste gesalbte König Israels und zeichnete sich als erfolgreicher Heeresführer aus, so etwa in den Schlachten gegen die Amoniter in Jawesch Gilad (1 Samuel 11:1–13) und gegen die Philister in Michmasch (Kap. 13–14). Sein wichtigster Kampf jedoch sollte den Amalekitern gelten: «So spricht der Gott der Heerscharen: Ich will strafen, was Amalek an Israel tat, indem er sich ihm in den Weg stellte, als es aus Ägypten zog. So ziehe nun hin und schlage Amalek und vollstrecke den Bann an ihm samt allem, was er hat, und schone seiner nicht» (15:2–3). Zuerst verlief der Krieg nach Plan und «Schaul schlug die Amalekiter … und fing Agag, den König der Amalekiter, lebendig» (15:7–8). Dann kam jedoch ein Kurswechsel: «Aber Schaul und das Volk verschonten Agag und die besten Schafe und Rinder … und alles, was gut war, und wollten den Bann an ihnen nicht vollstrecken» (15:9). Die Tatsache, dass Schaul sich nicht an Gottes Anweisungen gehalten hatte, zog eine erboste Reaktion des Ewigen nach sich: «Es reut mich, dass ich Schaul zum König gemacht habe; denn er hat sich von mir abgewandt!» (15:11).

Warum wird Schauls Tat dermassen kritisiert? Schliesslich wurde doch König Agag durch den Propheten Schmuel in der Folge eh hingerichtet (15:32–33). Die Weisen erklären, dass die Verzögerung Schauls schwerwiegende Folgen nach sich zog: der König Amaleks schaffte es nämlich, zwischen seiner Gefangennahme und seiner Hinrichtung eine Frau zu schwängern, aus welcher einst der Bösewicht Haman (der Perser!) entspringen würde. Deshalb wird Letzterer im bekannten «Maos Zur»-Lied, welches am Chanukka gesungen wird, als «Agagi» bezeichnet. Ein weiterer Midrasch fasst die Tat Schauls in folgendem Spruch zusammen: «Wer sich der Grausamen erbarmt, wird am Ende grausam zu den Barmherzigen» (Yalkut Schimoni). Schaul «erbarmte» sich Agags, des König Amaleks, weshalb in der Folge Schauls barmherzige Nachkommen unter den Grausamkeiten der Nachkommen Agags leiden würden.

Israel «erbarmte» sich der Hamas viel zu lange. Warnungen wurden in den Wind geschlagen, Liquidierungspläne gegen Yahya Sinwar, dem Hamas-Chef und Konzipierer des 7. Oktober-Attentats, wurden lange zuvor mehrmals verschoben. So liess man in unmittelbarer Nähe zu israelischen Kibbuzim und Dörfern eine Terror-Bestie heranwachsen. Das Versagen Israels lag nicht an mangelnder Kraft, sondern an der mangelnden Bereitschaft, das Unangenehme zu sehen. Der Glaube, dass die Hamas genau wie wir «Ruhe» wolle, dass sie «keine Front eröffnen» werde, dass sie «ungefährlich» sei, machte Israel blind für die realen Bedrohung. Wie König Schaul war man bei den grossen Schlachten unschlagbar, verkannte aber die Explosivität vermeintlich kleinerer Gefahren. Die Konsequenzen folgten unmittelbar. «Wer sich der Grausamen erbarmt (...)».

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn