«Alt sein ist eine herrliche Sache, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heisst.»
Agnes Heller
Alter – der blinde Fleck in der zunehmend schärfer werdenden Gerechtigkeits- und Teilhabe-Debatte.
Respekt und gleiche Bedingungen sollen in einer besseren Welt für alle Menschen gelten, für alle Geschlechter, Hautfarben, sexuelle Orientierungen, Körperformen. Für alle, ausser für Menschen, die von jungen Menschen als alt gelesen werden. Das ist relativ und meint immer auch die panische Abwehr der eigenen Zukunft, die Unzumutbarkeit der eigenen Sterblichkeit.
Alle Shitstorms der vergangenen Zeit richteten sich nie gegen eine Person, die sich abfällig älteren gegenüber geäussert hätte. Die Verachtung einer grossen Gruppe Menschen gegenüber, die als nicht zugehörig betrachtet wird. Die man als vulnerabel betiteln und zu ihrem eignen Besten bevormunden darf. Die man verspotten kann, auf die man keine Rücksicht nimmt. Die im Arbeitsmarkt benachteiligt wird. Bei der Wohnungsvergabe, der wunderbaren Welt der kapitalistischen Teilhabe. Die man in Heime sperren kann, wegschliessen. Nur weg damit. Sind Menschen offensichtlich alt, gehen sie langsamer, hören sie schlechter, sind nicht Jane-Fonda-fit, werden sie oft komplett aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. Von den Verwandten abgeschoben, verdammt zu einem Leben in Einsamkeit, und oft in Armut.
Das weltweit alternativlose System hat ganze Arbeit geleistet und die Menschen in Gewinner und Verlierer eingeteilt. Zu den Verlierern zählen Menschen, die auf Grund ihres Geschlechts, ihres Geburtsortes, ihrer Hautfarbe oder ihrer körperlichen Disposition benachteiligt werden. Vergessen werden in der wachsamen, empfindsamen Gesellschaft grosse Gruppen von Männern und Frauen: die älteren. Nicht Millionäre, nicht Konzernchefs, nicht Aufsichtsratsmitglieder. Eine graue Masse, die Jüngere fast mit Ekel erfüllt, ausser man ist aus Versehen mit ihnen verwandt. Die den schnellen Schritt behindern, die keine App installieren können, den Planeten ruiniert haben. Man nennt sie respektlos Oma oder Opa, auch ohne mit ihnen verwandt zu sein, ungeachtet dessen, ob sie das per Fakt sind, und zeigt damit, dass man selbst noch nicht dazugehört, zu der grossen Gruppe der Windelträger, die keinen kapitalistischen Mehrwert mehr erstellen. Man meidet sie, als hätten sie eine ansteckende Krankheit, und zeigt damit nur, dass man seine kapitalistischen Hausaufgaben gut gemacht hat. Wert hat in unserem System, was Leistung bringen, sich vermehren und aktiv sein kann. Man nimmt sie nicht wahr, die grosse Masse der älteren Frauen und Männer. Gerne aus Ländern mit suboptimaler Einkommensstruktur, die putzen, instand halten, Kinder aufgezogen haben, sich krumm gearbeitet haben, die Denker waren oder noch sind. Man redet langsam mit ihnen und zeigt seine Güte, indem man ihnen über die Strasse hilft, egal ob sie das wollen oder nicht.
Die neuen empfindsamen Menschen scheinen in der westlichen Welt vor allem eins zu sein: opportunistisch. Statt die wirkliche Gleichbehandlung aller anzustreben, besteht der Universalismus für viele darin, für sich das Privileg des Respekts einzufordern, sich jede Marginalisierung und Diskriminierung zu verbitten. Anerkennung für die eignen Schwächen, Krankheiten und Aussenseiterpositionen einzufordern und einen Grossteil der Bevölkerung abzuwerten. Die alten weissen Männer zum Beispiel, die in Schlachthöfen und Fabriken schuften, die Strassen reparieren, die alten Frauen, die Züge putzen, in der Pflege arbeiten, die ihr Leben lang Drecksjobs gemacht haben, kann man – ohne sich selbst als rassistischer, sexistischer, klassistischer Mensch zu outen – verachten, mitgetragen von den Medien. Ein Verkehrsunfall, eine in der Wohnung einsam liegende Tote. Ist es wichtig für eine Betroffenheit der Lesenden, dass ein Opfer über 70 war? Und hinterlässt nicht jeder Tote einen Riss in der Welt? Werden Junge mehr geliebt, mehr vermisst, weil sie noch ein Leben in Lohnarbeit vor sich haben? Solange Nicht-Angehörige von marginalisierten Randgruppen, die sich der berechtigte Forderung nach Gerechtigkeit anschliessen, eine Menschengruppe weiterhin diskriminieren, bleibt ein Zweifel an ihrer Idee einer gerechten Welt.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.
die literarische Kolumne
02. Mai 2025
Die verachteten Alten
Sibylle Berg