Tischa Beaw 31. Jul 2025

Antisemitismus als Leidenschaft

Davidstern am Tor einer Synagoge
Freud und Spinoza verbinden das Überleben der Juden mit dem Antisemitismus der Völker. (Bild von Jose Luis Raota)

Der jüdische Festkalender erzählt nicht nur von Erlösung, sondern auch von Verfolgung – und verweist damit auf eine jahrtausendealte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, der laut Sartre keine Meinung, sondern eine zerstörerische Leidenschaft ist.

Der jüdische Festkalender ist von einer Serie von Verfolgungsgeschichten geprägt. Von Chanukka bis Tischa Beaw, vom Winter bis zum Sommer, wird die Unterdrückung durch die grossen Völker der Antike gleichsam durchbuchstabiert: die Griechen (Chanukka), die Perser (Purim), die Ägypter (Pessach) und schliesslich die Römer (Tischa Beaw). Unterbrochen wird diese Reihe von Erinnerungen an judenfeindliche Ereignisse einzig durch Schawuot, das Erntedankfest, das neben der landwirtschaftlichen auch für die spirituelle Ernte (jener der Tora) steht. Der Fokus  auf Verfolgungen (die mit Ausnahme von Tischa Beaw sich zum Schluss allesamt dramatisch zum Positiven wenden) ist augenscheinlich. Nun sind Kalender nie nur simple Aneinanderreihungen von Daten.  Kalender (von lateinisch calare, „rufen“) sind laute Orientierungsinstrumente einer Gruppe, die Wesentliches in Zeit und Raum markieren wollen. Entsprechend waren Kalender immer wieder umstritten, im Judentum genauso wie etwa im Christentum (Kalenderstreit). Warum ruft der jüdische Kalender auf derart leidenschaftliche Art und Weise den Antisemitismus in Erinnerung? 

Leidenschaft hat im Ursprung mit Leiden zu tun. Die jüdische Lebenserfahrung ist in den letzten 2500 Jahren, seit der Zeit des babylonischen Exils, sowohl in der Diaspora als auch in Israel mit viel Leid verbunden. Nicht alle dunklen Kalendermomente zwischen Chanukka und Tischa Beaw sind historisch festzumachen, aber zumindest diese sind es. Und im 20. Jahrhundert kam der horrendeste Einschnitt in der jüdischen Geschichte hinzu. Im Kalender ist er nach Pessach als Jom Haschoah markiert. 

Kaum etwas mit subjektivem Leiden zu tun hat die Leidenschaft der Antisemiten. Im Gegenteil: Der Antisemit, die Antisemitin leiden nicht, sie amüsieren sich. „Il est amusant d’être antisémite“, schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in seinem 1946 veröffentlichten Essai Réflexions sur la question juive, der vielleicht noch immer scharfsinnigsten Studie über das Psychogramm des Antisemiten. Woher kommt er und was will er von der Welt (wie Georg Kreisler es formulieren würde)? Zuerst einmal ist Antisemitismus, so Sartre, keine Denkkategorie, die vom Recht zur freien Meinungsäusserung geschützt wäre. Denn Antisemitismus ist kein Gedanke, sondern eine Leidenschaft. Antisemitismus ist eine Passion, und zwar eine, die mit den wirklichen Juden kaum etwas zu tun hat: „Der Antisemit schafft sich seinen Juden“, schreibt Sartre. Auf den Juden kann der Antisemit alle seine Ängste projizieren. Der Jude ist für ihn der Ursprung aller Übel. Der Antisemit, schreibt Sartre, braucht den Juden. Wenn es ihn nicht gäbe, würde er ihn erfinden. Und weil der Antisemitismus seine Leidenschaft ist, lässt der Antisemit sich auch keines Besseren belehren. Sartres Essai, noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben, bleibt ein gewaltiger, hochaktueller Text. Er endet mit einer doppelten Botschaft: Antisemitismus ist nicht das Problem der Juden, sondern jenes der Nichtjuden („c’est notre problême“). Und: „Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange ein Jude, ob in Frankreich oder sonstwo in der Welt, um sein Leben fürchten muss.“ 

Über die Ursprünge des Antisemitismus und auch über seinen Platz im Judentum ist viel nachgedacht worden. Eines ist sicher: „Ein Phänomen von der Intensität und Dauerhaftigkeit des Judenhasses der Völker muss natürlich mehr als nur einen Grund haben.“ Der Satz stammt aus Sigmund Freuds letztem Werk, das von Moses und der monotheistischen Religion handelte. Es erschien 1939 kurz vor seinem Tod, als Freud bereits im Londoner Exil war, in das ihn der Judenhass der Völker getrieben hatte. Moses, schreibt Freud, verdanken die Juden ihre Zählebigkeit, aber auch die Feindseligkeit. Und die beiden Dinge hängen nach Freud für das Schicksal des Volkes Israel zusammen: „Mit beispielloser Widerstandsfähigkeit hat es  Unglücksfällen und Misshandlungen getrotzt, besondere Charakterzüge entwickelt und sich nebstbei die herzliche Abneigung aller anderen Völker erworben.“ Der Gedanke war nicht neu. Philon von Alexandrien, jüdisch-hellenistischer Religionsphilosoph und auch er Zeuge judenfeindlicher Agitation, schreibt 2000 Jahre zuvor, dass dem jüdischen Volke niemand helfe, weil es seine besonderen Gesetze hat. In einem gewissen Sinne sei das ganze jüdische Volk verwaist, schreibt Philon. „Ihr seid das Kleinste unter allen Völkern“, hält schon die Tora an einer Stelle fest. Der Minoritätsstatus ist damit gleichsam festgelegt. Und damit auch die stete Gefahr, angegriffen werden zu können. Das Judentum rechnet mit dem Antisemitismus und es setzt sich von Anfang an mit ihm auseinander. 

Zwischen Antike und Moderne, am Ende des langen jüdischen Mittelalters, steht der jüdische Philosoph Spinoza, der aus seiner Familiengeschichte den Antisemitismus ebenfalls kannte. Wie Freud verbindet auch Spinoza das Überleben der Juden und den Hass aller Völker:  „Dass sie sich aber so viele Jahre hindurch in der Zerstreuung und ohne eigenes Reich erhalten haben, ist durchaus kein Wunder, nachdem sie sich einmal in einer Weise von allen Völkern abgesondert, die ihnen den Hass aller zugezogen hat“, schreibt Spinoza in seinem Theologisch-politischen Traktat. Für die Hintergründe des Antisemitismus ist das sicher eine verkürzte Sicht. Wir wissen längst, dass sich die Juden zu keiner Zeit konsequent abgesondert haben. Sartres Sicht der Dinge – dass der Antisemit seinen Juden erfindet –, ist für das Phänomen des Antisemitismus konstitutiver. Und dann fügt Spinoza noch einen Satz hinzu: Es sei gerade der Hass der Völker, „der die Juden in erster Linie erhält“. Das habe schon die Erfahrung gezeigt. Nach Spinoza, dessen eigenes Verhältnis zum Jüdischen – gelinde gesagt – komplex war, ist es also der Antisemitismus, der das Judentum am Leben hält. Tatsächlich, und dies führt uns zum jüdischen Kalender zurück, ist der Antisemitismus Teil des jüdischen Selbstverständnisses geworden. Judentum ist ohne Antisemitismus fast nicht denkbar. Dass er in der longue durée der jüdischen Geschichte gleichsam der Sauerstoff des Judentums gewesen sei, wie Spinoza behauptet, ist allerdings erneut eine Verkürzung. Das Judentum hätte nicht überlebt, wenn es sich e negativo prioritär über den Hass der Völker definiert hätte. Das Judentum ringt mit dem Antisemitismus, aber es wäre fatal, wenn der Antisemitismus zu einer jüdischen Leidenschaft würde. Das Leid, das die Antisemiten den Juden antun, ist gross genug.  

René Bloch ist Professor für Judaistik an der Universität Bern und Distinguished Fellow der Hebräischen Universität Jerusalem. 
 

René Bloch