Das Jüdische Logbuch 07. Jun 2019

Befreiung garantiert keine Freiheit

Vence, Juni 2019. Grossbritannien, Russland und USA befreiten Europa. In diesen Tagen taucht Europa nochmals tief ein in die Erinnerung anlässlich des D-Day. Mit diesem hat nicht nur die Befreiung Europas vom totalitären Nationalsozialistischen Regime, sondern auch das Zeitalter einer Wert- und Kooperationsunion begonnen, die in den letzten Monaten und Jahren immer wieder zur Disposition gestellt wird.

Die Kinder und Jugendlichen in einem Collège, die sich an diesem Nachmittag eine Ausstellung über die Schoah anschauen, sind etwa 2004 oder 2005 geboren. Der Zweite Weltkrieg, die Schoah, ist zwar Geschichte, doch rasch zeigt sich, dass die emotionale Bindung an die Einzelschicksale eine tiefe Auseinandersetzung entfacht. Dafür verantwortlich sind nicht nur die engagierten Lehrerinnen und Lehrer, sondern die Schule insgesamt und auch das Departement 06 im Süden Frankreichs. Seit Jahren führt es sogenannte «voyages de mémoire» etwa nach Polen durch. Für das Selbstverständnis der Franzosen ist der Rückblick in die Geschichte evident. Tausende von Schülerinnen und Schülern partizipieren am Programm. Das hat auch mit dem Engagement der stellvertretenden Departementsvorsteherin der Alpes-Maritimes zu tun, die für das Erziehungswesen verantwortlich zeichnet. Am Eingang zur höher gelegenen Stadt am Fusse des überragenden Col de Vence erinnert eine Stele an die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Vence. Angesprochen auf die Frage, wie denn mit der Kolonialgeschichte und den Algerien-Kriegen umgegangen werde, senken die Lehrer den Blick zu Boden. Eine Lehrerin, Tochter von geflüchteten Pieds Noirs, die inzwischen wieder in Algerien leben, sagt, dass die Narben noch zu gross seien und die Aufarbeitung erst noch zu beginnen habe. «Viel ist noch zu tun im Umgang mit unserer eigenen Geschichte.» Sarah nickt. Sie ist algerische Jüdin, hat in Freiburg im Breisgau studiert und lebt seit 30 Jahren in Frankreich. Sie organisiert Kulturfestivals entlang der mediterranen Anrainerstaaten von Frankreich, Tunesien bis Israel. Muslime, Juden, Christen, Atheisten partizipieren. «Für uns Maghreb-Juden hat der D-Day eine ganz andere Bedeutung. Europa war ja weit weg, trotz den Besatzungen und der Kooperation des Vichy-Regimes.» Längst ist es nach Mitternacht. Die Schülerinnen und Schüler werden am nächsten Morgen im Collège de Signe Fragen zu den Fernsehbildern aus der Normandie haben und Fragen zu jener Zeit der Befreiung stellen, die zu einer Freiheit in Europa und der Welt geführt hat, die nicht natur-, sondern durch Menschen gegeben ist.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann