Das Jüdische Logbuch 17. Mai 2019

Eurovisionen im Sprachlabyrinth

Tel Aviv/Jerusalem, Mai 2019. Was wäre, wenn Israel nicht mehr durch Politik, sondern nur Kultur, Forschung, Menschen wahrgenommen werden könnte – weil die Politik keine Rolle mehr spielt? Was, wenn die Utopie nochmals Realität würde und konkret der Disput zwischen Juden und Muslimen in der Region endete, die Palästina-Frage für alle Menschen in der Region eine gerechte Lösung fände und die aggressive Verpolitisierung von Gesellschaften aufhörte? Gedanken beim Gang durch die Gänge der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem nach der Besichtigung von noch verschlossenen Nachlässen europäischer Autoren im Archiv. Nachlässe, die allesamt Israel lange vor seinem Entstehen in Worte gefasst und erdacht haben. Die Archivboxen sind voll davon. Visionen, die bis heute die Literatur ausmachen und gleichentags bei der Verleihung des Jerusalem-Preises eine Rolle spielen sollen. Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates macht in ihrer Dankesrede am Jerusalem Book Forum dieser Woche klar, dass Literatur für sie die Verpflichtung ist, jenen einen Stimme zu geben, die nicht gehört werden in der Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der oft nur die gehört werden, die lauter, privilegierter, grenzüberschreitender auftreten. Oates ist eine von vielen Stimmen am Forum, die an die Errungenschaft der Res Publica erinnern und aktuelle Entwicklungen anmahnen, die gerade in Demokratien in Europa,USA und auch in Israel, fest etablierten Grundwerten und -rechten zuwiderlaufen. Die Verleger Stefan von Holtzbrink und Penguin-Random-House-Chef Markus Dohle reflektierten auf einem Panel nicht ohne Zuversicht Visionen für den Buch- und Medienmarkt. Visionen gerade für die Gesellschaften in Nahost griff die Autorin Fania Oz-Salzberger auf, jene für die Literatur die Übersetzerin Anne Birkenhauer und viele anderen. Die Stadt des Buches hat zum Festival der Bücher geladen. Ein Festival, das Dank dem Engagement der Holtz­brink-Familie und mittlerweile auch des Bertelsmann-Konzerns seit Jahrzehnten Stimmen, Literaten, Agenten, Verleger, Scouts und junge Fellows aus der internationalen Verlagswelt in Jerusalem vereint. In den Gärten von Mishkenot Shaananim und den Bars in den offenen Gassen im Zentrum der Stadt folgen die Gespräche bis tief in die Nacht zwischen Menschen aus aller Welt, mit unterschiedlichen Zugängen, Religionen, Biografien. Offenheit, Vielfalt, Verschiedenheit, die real und selten naiv sind. Verschiedene Perspektiven, die irgendwas eint, das sich gleichentags im Gespräch mit einer mittlerweile 90-järhigen Bergen-Belsen-Übelebenden auftut, als sie von ihrem besten Freund spricht. Der junge Muslim lebt in Pakistan und führt seit Jahren eine Brieffreundschaft mit der in Jerusalem lebenden praktizierenden Jüdin. Dann ist es wieder da, als der in Israel lebende Schweizer Onkologe und Neurologe bei der zufällige Begegnung davon erzählt, dass er mit in seiner Forschung soeben einen schwer autistischen arabischen Jungen in Ostjerusalem betreut, der innerhalb einer Therapie perfekt Englisch lernte. Es ist wieder da, als Morris Kahn abends im Gespräch bei einem Privatanlass zu seinen Ehren bekannt gibt, dass er sich nach dem Scheitern der Bereschit-Mission, die er mit 50 Millionen Dollar privat finanziert hat, für eine nächste Runde in ähnlicher Grössenordnung entschieden. Es ist wieder da am nächsten Tag in einem Filmstudio in Yafo, in dem ein Kreativteam darüber diskutiert, wie Geschichte mit unterschiedlichen persönlichen Narrativen immer auch mit Blick auf die Geschichte des anderen so erzählt werden kann, das die eigene Bindung nicht über jener der anderen steht. Es ist da im Gespräch mit einer erfolgreichen Modeunternehmerin, die in Israel lebt und den Kontrast zwischen Israels politischem Establishment und weiten Teilen der israelischen Gesellschaft aufgreift. Und es ist Dienstagnacht da am Strand von Tel Aviv nach dem Halbfinal des Eurovision Song Contest. Tausende sitzen in der milden Nachtwärme, feiern und begegnen einander. Eine Begegnung, die im durch orthodoxe Koalitionen bedrängten freiheitlichen Israel zu Widersprüchen, heftigen Debatten und kuriosen Entwicklungen führt. Später in den Gassen von Yafo ist es da, wenn sich immer seltener israelische und arabische junge Erwachsene in den Bars treffen und bis tief in die Nacht diskutieren. Es ist da – doch niemand kann es so genau in Worte fassen. Jene Kraft, die nach Gerechtigkeit und Ausgleich mehr strebt als nach Ab- und Ausgrenzung. Die Ausgrenzung, die von Jerusalem, Budapest, Milano, Stockholm bis Washington eine Wirklichkeit überlagert, die sich in den nächsten Jahren durchsetzen wird gegen Establishments, gegen völkisch-populistische Bewegungen, gegen radikalen Kapitalismus, engstirnige Politik und ideologisierte Angstmacher. Es ist späte Nacht beim Gang durch das Gassenlabyrinth in Richtung des alten Hafens von Yafo, wo Juden und Araber zunehmend neben- anstatt miteinander leben. Zu viel ist geschehen, zu fest haben sich Keile zwischen die Menschen geworfen; oft von Behörden, Beamten und letztlich durch alseitige Gewalt, Misstrauen und inzwischen Hass. Es wird da sein, wenn am Samstagabend der Eurovision Song Contest das andere, vermutlich das alte-neue Israel zeigen wird. Das Israel, das Hand in Hand mit den unaufhaltsamen Bewegungen junger Europäer, Amerikaner, Afrikaner und vielen anderen in die Zukunft schreitet wider unüberbrückbarer Grenzen. Es ist da und wird bleiben. Filigran, angreifbar, poetisch, visionär, aber selten illusorisch. Denn irgendwann hat das babylonische Stimmengewirr Menschen nicht getrennt, sondern in Vielfalt vereint.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann