Das jüdische Logbuch 03. Mai 2019

Mahnruf statt Selbstzweck

München, Mai 2019. Namen über Namen pflastern die Strassen. Im Begriff beim Gang durch Hamburg, Wien und München in diesen Tagen, bei jedem dieser Stolpersteine inne zu halten und die Geschichten hinter den in Bronze gegossenen Steinen zu googlen erhalten Strassenbilder eine ganz andere Bedeutung. Es sind milde Tage. Stunden um Stunden erschlies­sen sich die Familiendramen, das Monströse inmitten der Gesellschaft. Die Opfer von Deportationen, Enteignung und Massenmord werden sichtbar und Teil des öffentlichen Raums. Mitten im Heute. Überall. Die Installation von «Stolpersteinen» ist Europas grösstes Erinnerungsprojekt. Umstritten war es zu Beginn, das eine oder andere hätte anders, demokratischer, transparenter etabliert werden können, wenn der öffentliche Raum im Sinne der Res Publica erreicht wird. Es bleibt dennoch das sichtbarste und letztlich eines der sinnvollsten Projekte. Was ist in den letzten Jahrzehnten im Bereich von Erinnerung und Gedenken nicht alles an Schwachsinn, Instrumentalisierung von Opfern und ignoranter Verkennung der Erinnerungskultur an Opfer etabliert worden, die auch noch nach ihrer Ermordung ihrer Identität beraubt, verfremdet und politisch missbraucht werden.

Die Erinnerung als Teil jüdischer Tradition beginnt allerdings nicht mit dem 20. Jahrhundert. Sie ist integraler Bestandteil der jüdischen Liturgie. Das Prinzip «Sachor» wird schon in der Thora über 160-mal angeführt. Mit Pessach, der Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei, und der Omer-Zeit beginnt ein Zyklus der Besinnung und des Gedenkens. Jom Haschoah in Erinnerung an die Opfer des Holocaust und Jom Hasikaron an die Gefallenen für Israel folgen in diesen Tagen unmittelbar. Das Judentum kennt kein Märtyrtum. Es kennt das Leben im Jetzt, da die Erinnerung Teil des Bewusstseins und nicht der religiösen Überhöhung ist. Erinnerung in Form der Gedenkflamme noch vor aller sinnvoller und absurder Inszenierung. Der Gang endet am Mittwoch am Münchner Platz der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus mit seinem ewig brennenden Feuer. Der Wind lässt die Flammen hörbar lodern. Ansonsten ist nichts zu hören. Menschen sitzen auf den Bänken und verinnerlichen den Moment. Das Trauma von Generationen wirkt fort und damit auch die Ohnmacht, die Überforderung einer Gesellschaft, die Geschichte aufzuarbeiten. Doch Gedenken ist kein Selbstzweck. Gedenken kann nur der Mahnruf sein von Generation zu Generation das Unmenschliche im Menschen zu überwinden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann