Das Jüdische Logbuch 29. Mär 2019

Europas Migrationsgeschichten

Bordeaux, März 2019. Die jüdische Gemeinde von Bordeaux liegt im Zentrum der Stadt. Auf die Frage bei der zuvorkommenden Dame im Vorzimmer des Rabbiners, wie viele Juden es denn in der Stadt gebe, wandelt sich ihre Lockerheit in jene einer französischen Beamtin: «Wir sind ein laizistisches Land. Bei uns wird Religionszugehörigkeit nicht quantitativ erhoben.»

Die Matrix europäischer Geschichte der letzten 200 Jahre ist neben jener von Krieg und Religionen eine der Migration. Unweit des Atlantiks an der Garonne gelegen, strahlt eine Stadt, die je nach historischer Lesart vielleicht dank einer List nicht zerstört wurde. Nach der Invasion der Alliierten 1944 gab Adolf Hitler den Befehl zur Zerstörung der Stadt, in der zuvor der Nazi-Kollaborateur Maurice Papon den vernichtenden Kampf gegen die Résistance geführt hatte und für die Deportation der Juden Bordeaux’ verantwortlich gewesen war. Die Geschichte zeichnet nach, wie Divisionskommandeur und Generalleutnant Albin Nake in geheimen Verhandlungen mit der Résistance übereinkam, dass die Stadt Bordeaux nicht zerstört würde, wenn die kampflos abziehenden deutschen Truppen von den Gruppen des Widerstandes nicht angegriffen würden, sondern freies Geleit erhielten. Dennoch wurde die prachtvolle Synagoge an der Rue du Grand Rabbin Joseph Cohen im Januar 1944 völlig zerstört und dann als ein Gefängnis für die zur Deportation bestimmten Juden genutzt. Eine Gedenktafel erinnert heute an die rund 560 von der deutschen Besatzungsarmee verschleppten Jüdinnen und Juden.

Wie viele andere Länder Europas war Frankreich lange Zeit ein Land ohne Juden. Gegen Ende des Mittelalters von den französischen Königen vertrieben, waren Juden in Gebieten unter päpstlicher Verwaltung um Avignon sowie um die Gegend von Bordeaux geduldet. Dort lies­sen sich im späten Mittelalter vor allem aus Spanien und Portugal geflüchtete sephardische Familien nieder. Mit der Eroberung von Elsass und Lothringen folgte später die Ansiedelung der aschkenasischen Juden in dieser Region. Die Flanke von Marseille den Atlantik hinauf bis Paris geprägt von der jüdischen Einwanderung der sephardischen Juden. Um das Jahr 1853 entdecken dann die Rothschilds die Weingebiete rund um Bordeaux und etablieren dort ihre Weingüter, die bis heute zu den besten der Welt gehören und zugleich in der jüdischen Gemeinde Bordeaux kaum wahrgenommen werden. Da ist er wieder, der Laizismus. Im gesellschaftlichen Alltag negiert oder entlastet er vieles, was heute rundherum in der Debatte um Herkunft, Kultur und Ethnie diskutiert wird.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann