Das Jüdische Logbuch 01. Mär 2019

Die letzte Frage

Rom, Februar 2019. Vielleicht nimmt das Bauwerk im Namen schon die Frage aller Fragen vorweg. Mit seiner wuchtigen Kuppel, in deren Mitte der blaue Himmel sichtbar wird, erhebt sich das Pantheon. Die Sonne scheint von Osten durch die Sonnenblende im offenen Dach an die Westflanke ins innere der Kuppel. Es sind die aufkommenden Fragen beim Spaziergang am Schabbatmorgen durch Roms Zentrum zur Synagoge, weiter entlang dem Tiber mit freier Sicht auf die gegenüberliegende wuchtige Engelsburg, wo zur gleichen Zeit der Papst mit Bischöfen die Sexualverbrechen der Kirche an Minderjährigen aufzuarbeiten versucht. Danach geht es durchs ehemalige Ghetto. In der Synagoge scheint die Sonne durch die farbigen Scheiben und das Farben- wird unter den Worten des Rabbiners zur Sidra Ki Tissa zum Fragespiel zwischen Licht und Schatten. Licht und Schatten, die mehr als Metapher sind zwischen Wahrheit und Blendung.

Es ist dieses orientalische Sprichwort das es nie gegeben hat, nie geben wird und doch so wahr, eine Frage und gleichsam so viel Erkenntnis ist.

Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich?

Kann es eine Welt ohne Antworten geben? Wenn es nur noch die Fragen gäbe oder allenfalls die Antworten durch die Frage? Ist die Frage nicht oft relativer als die Antwort? Die Antwort ist absoluter und in der Umsetzung noch absoluter. Sind es nicht die vielen Antworten, die so lange so klar waren und sich immer wieder zu neuen Fragen verändern? All das, was einst so gewiss war, auf einmal wieder Frage? Was also, wenn die philosophische Frage die Maxime der Zukunft wäre? Kann es dann noch Kriege, kann es dann Mord und Totschlag, kann es dann den absoluten Glauben, kann es dann eine neue Gesellschaft geben, die nicht mehr auf der Antwort, sondern der reinen fragenden Vernunft basiert?

Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich?

Ist die Antwort nicht das Instrument der Diktatoren? Die Frage jenes der Demokratie? Ist sie nicht Demokratie, Gleichberechtigung und Partizipation? Ist die Frage nicht viel musikalischer und hoffnungsvoller, als es die Antwort je sein kann? Ist die Frage nicht das Kind? Das Natürliche, Direkte, Offene, Ehrliche? Und Antwort das Erwachsene, Beschränkende, die Geiselhaft, das Reduzierende und Manipulierende? Ist das Gros­se nicht die Frage der Kinder? Gibt es sie überhaupt, die der Frage gewachsene redliche Antwort? Gibt es die Antwort überhaupt? Und wenn es sie jemals gegeben haben sollte, ist die Welt der Frage nicht die bessere?

Schaust du lieber vom Schatten in die Sonne oder schaust du lieber von der Sonne in den Schatten? Und wenn du es tust: Siehst du das Gleiche anders oder das Andere gleich?

Wäre dies die Frage in Platons Höhlengleichnis, die nie hätte beantwortet werden dürfen? Die Frage nach der Wahrheit, die nur erfragt, aber nie beantwortet werden kann? War die nächste Stufe auf der Leiter der Erkenntnis nicht die nächste, die richtigere Frage? Ist die Frage nicht die Möglichkeit als solche? Das Tor zur Welt, zum Denken, zum Dialog? Der Einlass, der keine Antwort benötigt? Aller Beginn von Existenz überhaupt? Was haben Menschen in den Karawanen wohl gedacht, als sie sich über Schatten, Licht und Perspektiven Gedanken und die Frage nach dem Blick aufs Ganze über Jahrhunderte geformt haben? Da Licht der Tag, Schatten die Nacht oder eben die Sehnsucht, der Wunsch nach Erfüllung irgendwo in der Einsamkeit hätte sein können? Und dann, wenn irgendwann alles auf den letzten Moment, auf den letzten Augenblick und den letzten Atemzug hinsteuert: Wird es dann nicht der Moment der Fragen ohne Antworten sein?

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann